Bauingenieur-Studenten der Hochschule in Biberach haben uns fünf Fragen gestellt, wie wir die Nachhaltigkeit von Stuttgart 21 bewerten. Hier unsere Antworten:
- Welche konkreten Maßnahmen oder Ansätze glauben Sie, dass die Projektverantwortlichen hätten ergreifen sollen, um die Nachhaltigkeit zu verbessern?
Stuttgart 21 war von Anfang an nicht mit dem Fokus auf Nachhaltigkeit geplant worden, sondern mit der Absicht zentrale City-Grundstücke zu gewinnen (indem man sie von Bahngleisen befreit) und dort lukrative Vorhaben für die Immobilen- und Bauwirtschaft zu schaffen. Zum Opfer dieses Ziels wurde das wesentlichste Nachhaltigkeits-Element Stuttgarts: der bestens funktionierende Kopfbahnhof (der zweitpünktlichste Deutschlands).
Dazu kommt, dass als zentrales Ziel eine direkte Zugverbindung zum Stuttgarter Flughafen gefordert wurde, damit die Fluggastzahlen signifikant steigen sollten. Nachhaltig wäre aber gewesen, die Fluggastzahlen zu reduzieren und die potenziellen Fluggäste stattdessen zum Bahnfahren zu animieren.
Die Projektverantwortlichen hätten zuerst fragen müssen: Wie können wir den Bahnverkehr noch weiter verbessern? und dann erst: Ergeben sich daraus auch Möglichkeiten für die Stadtentwicklung, Bau- und Immobilienwirtschaft? Tatsächlich aber wurde statt eines Bahnprojekts, das auch Wohnungsbau ermöglicht, ein Immobilienprojekt geplant, dem der Bahnverkehr zum Opfer fiel. Denn anstelle des bestehenden Kopfbahnhofs mit einer Kapazität von 50 Zügen in der Spitzenstunde wird ein zur Hälfte unterirdischer Durchgangsbahnhof mit einer Kapazität von nur 32 Zügen in der Spitzenstunde gebaut, der zudem – im Gegensatz zum bestehenden Kopfbahnhof – keinerlei Erweiterungsmöglichkeiten besitzt.
Konkret hätten die Projektverantwortlichen fragen müssen: Wie können wir die Zahl der Züge vergrößern? Wie muss der Bahnhof gestaltet werden, damit umsteigefreundliche Fahrpläne ermöglicht werden? Wie können wir den Bahnverkehr so attraktiv gestalten, dass möglichst viele Autofahrer*innen sich mit Lust dafür entscheiden, ihre täglichen Fahrten mit der Bahn und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln zu unternehmen? Dazu gehören auch attraktive Umsteigemöglichkeiten zwischen Bus und Bahn (der „Zentrale“ Omnibusbahnhof (ZOB) wurde jedoch, um Stuttgart 21 Platz zu machen, an den 15 Kilometer vom Zentrum entfernten Flughafen verlegt).
Verschärfend kommt hinzu, dass die Fläche, die durch Stuttgart 21 für Immobilienprojekte freigemacht werden soll, aus stadtklimatologischen Gründen auf keinen Fall bebaut werden darf. Denn Stuttgart liegt in einem die ganze City umgebenden Talkessel, der nur auf einer Seite flacher zum Neckartal hin offen ist. Die Luftströme zum Neckartal hin sorgen dafür, dass frische Luft von den Hängen nachfließen kann. Genau in dieser Frischluftschneise zum Neckar hin, soll jedoch der neue Stadtteil gebaut werden. Und zwar in einer Bauhöhe, durch die laut städtischem Umweltamt unterhalb einer Höhe von 10 Metern keinerlei Luftbewegung mehr stattfinden kann. Außerdem stellen die bestehenden Kopfbahnhofgleise einen Kühlkörper dar, der im Sommer die nächtliche Luft abkühlt und so die ohnehin hitzegeplagte Stadt entlastet. Auch wenn der neue Stadtteil nach hohen klimapolitischen Standards gebaut werden soll, würde er an dieser Stelle ein schweres klimapolitisches Vergehen darstellen.
Das zentrale Nachhaltigkeitsproblem von Stuttgart 21 ist aber, dass der Mitteleinsatz in einem skandalös krassen Missverhältnis zu den erhofften und erst recht zu den tatsächlich erreichten Zielen steht: Zurzeit geht die Bahn von einem Gesamtkostenrahmen (ohne die Neubaustrecke nach Ulm) von fast 12 Milliarden aus, und das Ergebnis ist ein um 40 Prozent reduzierter Bahnhof und ein Neubaugebiet, das dem Stadtklima schadet. Für einen einzigen Bahnhof (und seine Zulauf-Gleise und -Tunnels) 11 Milliarden auszugeben, wäre ethisch und vor dem Hintergrund von Nachhaltigkeit bestenfalls zu vertreten, wenn ein absoluter Spitzenbahnhof herauskäme, der auch in 100 Jahren noch Weltspitze wäre, aber nicht einer, der z.B. vom ersten Tag an mit der Notlösung von über 100 Gleis-Doppelbelegungen arbeiten muss.)
- Wie könnten die sozialen und ökologischen Auswirkungen des Projekts auf die Stadt Stuttgart und die umliegenden Gebiete reduziert werden?
Noch ist ein Gutteil der sozialen und ökologischen Auswirkungen korrigierbar – wenn(!) der neue Tiefbahnhof nicht für Personenzüge, sondern für City-Logistik verwendet wird, der Kopfbahnhof – in modernisierter Form (siehe www.umstieg-21.de) die Aufgabe behält, den Personen-Bahnverkehr zu bewältigen, und die Stadt Stuttgart auf ihre Immobilienpläne (aus ihrer Sicht dem eigentlichen Sinn von Stuttgart 21) verzichtet.
Zur Erläuterung des Konzepts City-Logistik: Das Aktionsbündnis hat (von Logistik-Professoren unterstützt) ein Konzept entwickelt, das vorsieht, an den Stadträndern (Hafen, Autobahn, Güterbahnhof) Güterumschlagstellen zu bauen, von denen aus die Güter auf Paletten unterirdisch durch die bereits gebohrten S21-Tunnels vollautomatisch ins Zentrum transportiert und von dort durch Lastentaxis in der Stadt verteilt und umgekehrt Waren wieder an die Peripherie gebracht werden. Auf diese Weise würden nicht nur die Tunnels attraktiv genutzt, sondern auch die Straßen von einem Gutteil des CO2- und Feinstaub-trächtigen und städtischen Raum verbrauchenden Lieferverkehrs befreit.
Gegenwärtig plant das Landesverkehrsministerium, die Vorort-Bahnhöfe Vaihingen, Feuerbach und Bad Cannstatt so zu ertüchtigen, dass die Regionalzüge, die der Tiefbahnhof nicht bewältigen kann, dort halten und um Stadtzentrum und Hauptbahnhof herumgeführt werden können. Die Folge wäre, dass es keine zentrale Möglichkeit des Umsteigens zwischen allen Fern- und allen Nahverkehrszügen in Stuttgart mehr gäbe. (Ironie des Schicksals: Eine zentrale Begründung für Stuttgart 21 war gewesen: „damit die Züge nicht an Stuttgart vorbeifahren“ – genau das wird aber gegenwärtig geplant, weil der Tiefbahnhof zu wenig Kapazität hat.)
Zudem hat das Aktionsbündnis Pläne erarbeitet, die vorsehen, den S-Bahn-Verkehr vom südlich der Stadt gelegenen Flughafen auf der Trasse der Bahn-Neubaustrecke nach Ulm ins Neckartal bei Wendlingen zu verlängern und so einen Ringschluss zu ermöglichen (und eine direkte Verbindung von Böblingen bis an den Rand der Schwäbischen Alb nach Kirchheim/Teck zu schaffen), der die überlastete Stammstrecke im Zentrum entlasten würde.
Nicht mehr korrigierbar ist, dass v.a. für den Stahlbeton der bislang 60 Kilometer an Bahntunnels im Bereich der Stadt ca. 1,5 Millionen Tonnen an Treibhausgasen produziert wurden.
Kurzum: Es gibt hervorragende Ideen. Es müsste nur von der Politik anerkannt werden, dass ein Festhalten an den S21-Plänen ein verkehrs- und klimapolitisches Desaster bedeutet. Wohnraum kann und muss durch Verdichtung und nur auf klimapolitisch verantwortbaren Flächen stattfinden und darf nicht in Konkurrenz zum klimapolitisch zentralen Verkehrssektor gebracht werden.
- Welche langfristigen ökologischen und sozialen Auswirkungen befürchten Sie, wenn das Projekt Stuttgart 21 in seiner aktuellen Form fortgesetzt / fertiggestellt wird?
Wir befürchten, dass der Trend vom Auto zum ÖPNV umgekehrt wird und in Stuttgart und Umgebung wieder erheblich mehr Verkehrsteilnehmer*innen aufs Auto umsteigen, weil die Bahnanschlüsse zu unattraktiv und die Züge zu unpünktlich werden.
Wir befürchten, dass die Luft in Stuttgart noch schlechter wird, weil der Autoverkehr noch mehr zunimmt (auch E-Autos sind wegen des Feinstaubs und des Verkehrsflächenverbrauchs eine Umweltbelastung).
Wir befürchten, dass durch den geplanten neuen Stadtteil weiterer Verkehr nach Stuttgart gezogen wird, der von der durch S21 verschlechterten ÖPNV-Situation nicht bewältigt werden kann.
Wir befürchten, dass der geplante neue Stadtteil auf so teurem Boden geplant wird, dass er nur für sehr betuchte Menschen erschwinglich ist, bedürftigere Familien weiter verdrängt werden und so eine zunehmende soziale Schieflage in Stuttgart entsteht. (Mehr Wohnraum verbilligt nur dann die Mieten, wenn er zu einem Überangebot führt – davon ist Stuttgart aber weit entfernt.)
Wir befürchten, dass durch den geplanten neuen Stadtteil das Stadtklima Stuttgarts, einer der Städte Deutschlands, die mit den größten klimabedingten Temperaturanstiegen zu rechnen hat, so unwirtlich wird, dass die Stadt Stuttgart massiv an Lebensqualität verliert.
Wir befürchten, dass es im Stadtzentrum mehr Überflutungen gibt, weil der– eben nur teilweise unterirdische – Tiefbahnhof einen Querriegel im Tal darstellt, der wie eine Staumauer die Oberflächenwasser von den Hängen vor dem Bahnhof aufstaut.
Wir befürchten, dass die „Ergänzungsprojekte“ zu Stuttgart 21 die öffentlichen Kassen so stark belasten („Kannibalisierungseffekt“), dass keine ausreichenden Mittel mehr für ökologisch sinnvolle Maßnahmen bleiben und die Fahrpreise noch erhöht werden. Es sei darauf hingewiesen, dass derzeit – zusätzlich zu den bereits gebohrten 60 Kilometer Bahntunnel – weitere ca. 45 Kilometer Bahntunnel für die Zulaufstrecken von Böblingen und Mannheim her geplant sind, um noch ein klein wenig an Flexibilität schaffenden Fahrzeitminuten für den zu kleinen Tiefbahnhof herauszuschinden. (Dies ist Teil eines Maßnahmenkatalogs des Bundesverkehrsministeriums, das unter der Überschrift „Deutschlandtakt“ derzeit bundesweit extrem teure Hochgeschwindigkeitsstrecken plant und durchsetzt, statt die Vielzahl an kostengünstigen Kleinmaßnahmen anzupacken, durch die tatsächlich Leistung und Pünktlichkeit der Bahn erhöht werden könnten.)
- Könnten Sie uns bitte darüber berichten, welche Nachhaltigkeitsbemühungen im Rahmen von Stuttgart 21 versprochen wurden, welche davon tatsächlich umgesetzt wurden und welche spezifischen Nachhaltigkeitsmaßnahmen Sie sich gewünscht hätten?
Wie üblich, wenn Großprojekte durchgesetzt werden sollen, wurde auch für Stuttgart 21 eine Vielzahl an Legenden in die Welt gesetzt, warum dieses Projekt zukunftsweisend sei.
So wurde behauptet, der Kopfbahnhof sei an seiner Kapazitätsgrenze angelangt und der Tiefbahnhof werde die doppelte Kapazität haben. (Beim Geißler’schen Faktencheck beschränkte man sich dann auf 30 Prozent mehr, in Wahrheit sind es 40 Prozent weniger.)
Es wurde behauptet, ohne S21 würden die Züge künftig an Stuttgart vorbeifahren und die Stadt den umweltfreundlichen Anschluss an die Bahnlinie von Paris bis Bratislava verlieren. (In Wahrheit stand das nie zu befürchten. Im Gegenteil es würde künftig wegen S21 ein Großteil der Regionalzüge an Stuttgart vorbeifahren.)
Es wurde behauptet, dass durch S21 mindestens 24.000 Arbeitsplätze geschaffen würden. (Die Wahrheit liegt vermutlich eher bei 2.500 – jedenfalls errechnete das IMU-Institut diese Zahl.)
Es wurde behauptet, als Ausgleich für die Rodungen im Mittleren Schlossgarten (zu deren Durchsetzung der bekannte widerrechtliche gewaltsame Polizeieinsatz am 30.9.2010 durchgeführt wurde) würden 5.000 neue Bäume gepflanzt. (In Wahrheit müsste für so viele Bäume von vergleichbarer Größe die Hälfte der neu gewonnenen Bauflächen allein für Bäume verwendet werden.)
- Könnten Sie sich und Ihre Organisation bitte kurz vorstellen und uns erzählen, welche Gründe Sie dazu motiviert haben, sich aktiv gegen das Projekt Stuttgart 21 einzusetzen.
Das „Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21“ ist ein Bündnis von knapp 20 Initiativen, Gruppen und Parteien aus Stuttgart und Umgebung. Jedes Bündnis-Mitglied ist mit ein oder zwei Vertreter*innen bei den 14-täglichen Treffen aktiv. Bei diesen Treffen werden aktuelle Fragen rund um Stuttgart 21, Bahn- und Stadtpolitik beraten und anstehende Aktionen geplant. Ein Team von zwei Sprechern und einem Geschäftsführer organisiert die Sitzungen, sorgt für die Erledigung der laufenden Geschäfte und vertritt das Bündnis nach außen. Siehe dazu auch auf unserer (zurzeit in Umgestaltung begriffenen) Homepage https://kopfbahnhof-21.de unter „Über uns“ – „Mitglieder/Arbeitsgrundlagen“
Martin Poguntke, Sprecher Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, 5.10.23