Rede von Benedikt Weibel, ehemaliger Schweizer Bahnchef, am 19.2.2024 im Großen Saal des Stuttgarter Rathauses.
(hier als pdf-Datei)

Die Gäubahn darf nicht gekappt werden

Am 15. April 2013 sprach ich an der Montagsdemonstration auf dem Rathausplatz in Stuttgart. „Ich spreche nicht über Stuttgart 21“, sagte ich. „Ich spreche über Megalomanie, und zwar mit einem Beispiel aus der Schweiz.“ Megalomanie, das heisst Grössenwahn, Selbstüberschätzung.

Die Stadt Zürich beschloss in den 1960er Jahren den Bau einer U-Bahn mit über 100 Stationen – ein masslos überrissenes Projekt für eine Stadt dieser Grössenordnung. Wie das so ist in der Schweiz, musste das Volks darüber abstimmen. Und sagte „nein“. Zehn Jahre später wurde dem Volk eine neue Vorlage unterbreitet: Eine Kombination einer abgespeckten U-Bahn mit einer S-Bahn. Wieder nein. Im dritten Anlauf wurde dem Volk das Projekt für eine S-Bahn unterbreitet. Mit nur zwei Ausbauten im Kernbereich sollte ein grosser Netzeffekt erzielt werden, darunter ein unterirdischer viergleisiger Durchgangsbahnhof unter dem Kopfbahnhof Zürich. Nun wurde die Vorlage mit grossem Mehr angenommen. Die 1992 in Betrieb genommene S-Bahn Zürich wurde zu einem grossen Erfolg.

Dann sprach ich vom Projekt Bahn 2000. Ziel war eine landesweite Verbesserung des Angebotes: häufiger – direkter – schneller. Dafür wurden 135 Bauprojekte realisiert, darunter eine 48 km lange Neubaustrecke. Am 12. Dezember 2004 wurde der neue Fahrplan eingeführt. Seither fahren die Züge in der Schweiz in den wichtigen Relationen im Halbstundentakt. Das Total aller dafür notwendigen Investitionen betrug 5,9 Mrd Franken. Der Erfolg des Projektes war durchschlagend. Seither gilt für den öffentlichen Verkehr der Schweiz: Von Überall nach Überall – von frühmorgens bis am Abend spät, mindestens jede Stude, in vielen Relationen jede halbe Stunde.

Und dann, an diesem Montagabend im April 2013, erwähnte ich erstmals Stuttgart 21: „Und dieser eine Bahnhof hier wird mindestens so viel kosten wie unser landesweites Projekt.“ Ich habe mich gründlich getäuscht. Stuttgart 21 wird mindestens doppelt so viel kosten. Zürich und Stuttgart haben eines gemeinsam: einen Kopfbahnhof im Herzen der Stadt. Ein Bahnhof im Herzen der Stadt ist ein immenser Standortvorteil für die Bahn. Die Dimensionen der beiden Bahnhöfe sind allerdings ungleich. Zürich bewältigt heute rund 3000 Züge pro Tag, mehr als dreimal so viel wie Stuttgart, da sind es 856.

Ein Bahnhof im Herzen der Stadt führt zu grossen Gleisfeldern im Herzen der Stadt. Die Stadt wird damit zweigeteilt. Und dort, wo der Boden am teuersten ist, liegen auf einer grosse Fläche Schienen. Aus bahntechnischer Sicht hat ein Kopfbahnhof wesentliche Nachteile. Zu Beginn meiner Bahnlaufbahn, wurden noch lokbespannte Züge in den Bahnhof geführt, dann eine Lokomotive hingefahren und angekoppelt, gleichzeitig die Lokomotive am Gleisende abgekoppelt und dann, wenn der Zug abgefahren war, auf einen Abstellplatz gefahren.

Die sogenannte „Verpendelung“ der Züge war eine enorme Verbesserung. Was bleibt sind, die längeren Fahrzeiten und der Kapazitätsverlust wegen der Ein- und Ausfahrten. Bereits in den 1960er Jahren befassten sich die SBB und die Stadtbehörden mit der Problematik „Gleisbrache“. Die Interessen der Kooperationspartner deckten sich. Die SBB wollten ihre Flächen rentabilisieren, die Stadt wollte städtebauliche Ziele verwirklichen. 1978 einigten sich die Behörden in Zürich und die SBB, die Gleise zu überbauen. Man schrieb Architekturwettbewerbe aus, gründete Projektgesellschaften, in denen auch die Grossbanken vertreten waren. 1988 genehmigte die Stadt Zürich in einer Volksabstimmung mit knappen 50,7% der Stimmen einen Gestaltungsplan für die Gleisüberbauung. Ich erinnere mich noch genau, wie ich an einem Freitagnachmittag im Jahr 2001 im Büro des CEO der UBS vor einer Flipchart stand und wir gemeinsam zum Schluss kamen, dass mit dieser Investition kein positiver Kapitalwert (NPV) zu erzielen war. 23 Jahre nach seiner Lancierung wurde das Vorhaben beerdigt. Insgesamt mussten etwa 150 Millionen Franken abgeschrieben werden.

Mittlerweile haben die Stadt Zürich und die SBB die Areale beidseits der Gleise städtebaulich entwickelt. Der Gleisüberbauung weint niemand eine Träne nach. Der grosse Unterschied zu Stuttgart ist: Die Problematik der betrieblichen und kommerziellen Nachteile des Kopfbahnhofs wurden in Zürich nie mit dem Immobilienprojekt verknüpft. Produktivität und Reisezeiten konnten dank dem Bau von zwei unterirdischen Durchgangsbahnhöfen mit verhältnismässig bescheidenem Kapitalaufwand massiv verbessert werden.

Stuttgart 21 war zuerst ein von der DB ausgelöstes Immobilienprojekt. Wie in Zürich war das Ziel, die Gleisbrachen kommerziell und städtebaulich zu nutzen. Im Gegensatz zu Zürich entschied man sich aber, nicht über den Gleisen bauen, sondern den Bahnhof in den Untergrund verschieben. Das ist wesentlich teurer als eine Gleisüberbauung. Die Kosten fallen grundsätzlich bei der Bahn an. Es wurden keine privaten Partner einbezogen, und deshalb gab es niemand, der aus finanzieller Sicht die Reissleine hätte ziehen können. Von einem NPV hat man nie gesprochen, auch nicht von einer anders gelagerten Kosten-/Nutzen-Rechnung. Mit dieser wohl unbewusst vorgenommenen Verknüpfung eines Immobilienprojektes mit einem Bahnhof-Ausbauprojekt begann das Unheil.
Damit hat man erstens pragmatische Lösungen wie in Zürich ausgeschlossen. Und zweitens führte die Verknüpfung bahntechnischer Erfordernisse und städtebaulicher Anliegen zu schwer lösbaren Konflikten.

Zunächst war die Kommunikation über das Projekt gefordert. Man konnte nicht mehr die Nutzung der Gleisbrachen in den Vordergrund stellen. Jetzt brauchte es Begründungen für die bahntechnische Notwendigkeit eines Tiefbahnhofes. Da Stuttgart 21 nie Bestandteil eines nationalen Angebotskonzeptes war, suchte man krampfhaft nach betrieblichen und kommerziellen Gründen, welche die gigantisch teure Tieferlegung eines gesamten Bahnhofes rechtfertigen sollten. Die absurdeste von all diesen Begründungen waren die Reiseströme von Paris nach Bratislava.

Hätte man damals gesagt, dass man mit Stuttgart 21 auf lange Zeit die Verbindung mit dem gesamten Südverkehr kappt: ich weiss nicht, was dann passiert wäre. Der Stuttgart 21 – Schlichter Heiner Geissler hat 2010 jedenfalls klar gemacht, dass die Gäubahn erhalten bleiben muss. Die DB ist mit Stuttgart 21 in eine riesengrosse Komplexitätsfalle getappt. Bildlicher Ausdruck davon ist die Kostentreppe, die mit den in einer Rahmenvereinbarung 1994 festgehaltenen 2,5 Mrd Euro beginnt und – vorläufig – auf 11,5 Mrd Euro steht.

Mit der an sich löblichen Absicht, den neuen Bahnhof zu einem „digitalen Knoten“ zu machen, hat man den Komplexitätsgrad nochmals potenziert – mit entsprechenden Kosten-, Qualitäts- und Terminrisiken – und die sind sehr hoch.

Ich wollte heute mit der Gäubahn nach Stuttgart reisen. Für diesen kürzeren Weg hätte ich 40 Minuten länger gebraucht als via Basel – Mannheim und zwischen Zürich und Stuttgart zweimal umsteigen müssen. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der schnellsten Zugsverbindung ab Zürich via Gäubahn beträgt heute knapp 55 km/h. Die Fahrt von Zürich über den grossen Umweg via Basel und Karlsruhe dauert kaum länger. Die Kappung der Gäubahn hat also schon begonnen. Wo früher noch Pendolino-Züge via Zürich nach Milano gefahren sind, ist das Bahnangebot einer ganzen Region drastisch verschlechtert worden.

Die Kappung der Gäubahn ist eine komplizierte Geschichte. Offenbar war schon im Planfeststellungsbeschluss von 2006 von einem vorübergehenden Unterbruch die Rede. Grund dafür ist der Bauablauf zur Anbindung der S-Bahn an die Station Mittnachtstrasse. Erwarten Sie von mir nun keine Entwirrung dieses komplizierten Knotens. Dazu habe ich weder die Fachkenntnisse noch die Ortskenntnisse und auch nicht die Fachleute, auf die ich mich bei den SBB verlassen konnte. Deshalb zitiere ich aus einem so scheint mir sorgfältig redigierten Text in einer Fachzeitschrift.[1]

„Obwohl mit einer vergleichsweise einfachen und kostengünstigen Lösung der Betrieb auf der Gäubahn aufrechterhalten werden kann, lehnen die Landeshauptstadt Stuttgart und die Deutsche Bahn die nun erhobenen Forderungen ab. Die Stadt als Eigentümerin der derzeitigen Bahngrundstücke des Kopfbahnhofes …“

Da muss ich einen Einschub machen: Wir müssen den Altvorderen der SBB ewig dankbar sein, dass alle Bahngrundstücke den SBB gehören.

Fortsetzung Zitat: „Die Stadt als Eigentümerin der derzeitigen Bahngrundstücke will nach Fertigstellung von Stuttgart 21 dort ein neues Stadtquartier errichten. Von Seiten der DB AG heisst es,: Man werde die Pläne für Stuttgart 21 umsetzen, die ,im Besonderen auch die städtebaulichen Ziele‘ würdigen.“ Also: Man begründet eine irrwitzig hohe Investition mit bahnbetrieblichen Notwendigkeiten bis hin zu den Verkehrsströmen Paris – Bratislava. Jetzt, Jahre später, will man eine über 100jährigen Zufahrtslinie kappen und ein grosses Einzugsgebiet bahnmässig ins Abseits stellen: Das obere Neckartal, das obere Donautal, den westlichen Bodenseeraum und die Region Zürich/Schaffhausen. Obwohl es eine Lösung gibt, die solches vermeiden würde. Welche aber nicht realisiert werden könne, weil die Stadt städtebauliche Anliegen hat, die offenbar dringlicher sind, als ein guter Bahnanschluss einer ganzen, grossen Region.

Es ist unfassbar, dass die DB dieses Spiel mitmacht. Damit deklariert sie, dass sie eine anständige Bahnverbindung in den Süden nicht für notwendig hält.

Langfristig allerdings will die DB das Problem lösen. „Perspektivisch“ – ein Wort, das maximale Unverbindlichkeit ausdrückt – soll die Gäubahn mit einem 11 km langen Tunnel zwischen dem Flughafen und Böblingen angeschlossen werden. Im besseren Fall heisst das – ich sag mal optimistisch – zehn Jahre warten. Im schlechteren, aber viel wahrscheinlicheren Fall, wird das Geld für eine solche aus Kosten-/Nutzensicht fragwürdige Investition fehlen.

Frei nach dem Sprichwort: Lieber die Taube auf dem Dach als den Spatz in der Hand.

Zwei Grossschriftsteller – einer aus Deutschland, einer aus der Schweiz – haben solche Vorgänge auf den kürzesten Nenner gebracht.

Johann Wolfgang von Goethe: «Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.»

Friedrich Dürrenmatt: „Die Geschichte ist erst dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“

Was bleibt übrig?

Lasst Euch das nicht gefallen! Es kann nicht sein, dass eine Stadt, in einer Zeit, in der eine Verkehrswende angesagt ist, lokalen städtebaulichen Anliegen mehr Gewicht gibt, als einer ordentlichen Bahnverbindung eines grossen Einzugsgebiets. Ich kann das Aktionskomitee Gäubahn nur ermuntern, eine möglichst breit abgestützte Koalition (auch mit den betroffenen Schweizer Kantonen) zu bilden und auf allen politischen Ebenen, auch bei der DB, Druck zu machen. Man hat ja in diesem Land grosse Erfahrung mit Bürgerprotesten.

Verhindern Sie so zumindest das schlimmstmögliche Ende dieser Geschichte.

[1] Die Kappung der Gäubahn ist unnötig, in: Bahn-Report 2/2020, S. 10.