Liebe Freundinnen und Freunde,

es ging dieser Bürgerbewegung – je erwachsener sie wurde, umso mehr – immer um zweierlei: um Stuttgart 21, die Verhinderung eines absurden Bahnhofs, und um das „Prinzip Stuttgart 21“, eine Begriffsschöpfung meines Wissens von Volker Lösch. Prinzip S21 meint die Verknüpfung der Auseinandersetzung um den Bahnhof mit vielen gesellschaftspolitischen Konfliktfeldern, die mit ausgetragen werden im Konflikt um den Bahnhof. Sei es das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in Abgrenzung zu einem usurpatorischen staatlichen Gewaltmonopol, sei es die Frage, wie viel Macht Kapital- und Investoreninteressen bei der Entwicklung unserer Städte gewinnen, sei es die Bahn- und Verkehrspolitik, bei der es am Exempel Stuttgart 21 um die Frage Verkehrswende oder Rolle rückwärts geht.

Bei all diesen „Prinzip-Themen“ hat die S21-Protestbewegung große Erfolge erreicht, die allein all die Anstrengungen gelohnt haben und weiter lohnen werden. Nur bei dem all diese Themen verbindenden Konflikt um das Bahnhofsprojekt selbst gibt es bisher keinen Erfolg, im Gegenteil: es wird einfach weiter gemacht. Diese Schizophrenie, die Grundsatzfragen von ihrem Auslöser abzutrennen, hat System: die Stuttgarter Zeitung greift das Thema Stadtentwicklung mit einem beachtlichen und nachlesenswerten Kongress („Zukunft der Stadt – Stadt der Zukunft“/kleine Selbstkritik s. p.s.) auf und schafft es, wie die Katze um den heißen Brei, das Thema Stuttgart 21 zu meiden. Der SWR thematisiert erfolgreich bis in die Tagesthemen in der Halbzeitpause eines WM-Spiels hinein, die desaströse Bahnpolitik zu dokumentieren, aber auch hier kein Wort zu S21, als dem Inbegriff dieser verfehlten Bahnpolitik (obwohl Heiner Monheim und viele andere S21- Gegner zu Wort kommen).  Der Nahverkehrsvertrag, ein gigantischer Subventionsbetrug (s. PM des Aktionsbündnisses dazu), wird zurecht und dankenswerterweise öffentlich zerpflückt, allerdings fast nur unter der Überschrift „zuviel gezahlt?“ und fast nicht mit der Frage „wofür zuviel gezahlt?“ – und dies obwohl selbst die alte Landesregierung diesen Zusammenhang, wenn auch geschönt, herstellt, s. PM vom 16.8.2010.

Ebenfalls große bundesweite Resonanz hat das Strafverfahren gegen die Wasserwerfer-Polizisten vom 30.9.2010 erreicht. Allein die Eröffnung des Verfahrens – ein großer Erfolg der S21-Bewegten, den Ingo Arzt in der taz 24.6.2014 darin sieht, dass: „die Zivilgesellschaft jedenfalls ihr Immunsystem gegen diese Art von Gesetz- und Knüppelpolitik gestärkt“ hat. Ein Erfolg des Durchhaltevermögens vieler Gruppen und Einzelner, allen voran von Dieter Reicherter, der in der aktuellen kontext-Ausgabe, die vielen weiter klärungsbedürftigen Fragen auflistet und die Verfahrensbeteiligten näher vorstellt: www.kontextwochenzeitung.de/macht-markt/169/spitze-des-eisbergs-2275.html. Aber auch hier droht die Gefahr der Abkoppelung der Brutalität vom 30.9. von ihrem Anlass und Grund, das Bahnhofsprojekt gegen alle Vernunft um jeden Preis durchzusetzen.  Der 30.9. soll historisiert werden, als ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichtsschreibung überantwortet werden, die weiter Durchsetzung des Projekts bleibt unbehelligt und dethematisiert.

Und auch im Ringen um den Bundestagsuntersuchungsausschuss, zu dem in der kommenden Woche Gespräche mit den Oppositionsfraktionen unter Beteiligung von Vertretern des Aktionsbündnisses in Berlin stattfinden werden, geht es zumindest im Subtext um die Frage, ob „nur“ das manipulative Verhalten von Bundesregierung/Merkel/Pofalla thematisiert werden soll, was Grund genug für einen Untersuchungsausschuss wäre, oder ob damit beabsichtigt bzw. riskiert werden soll, dass S21 selbst erneut auf die Tagesordnung kommt.

Die Entkoppelung des geradezu dialektischen Zusammenhangs von Stuttgart 21 und „Prinzip Stuttgart 21“ zu verhindern, ist eine große Herausforderung für die S21- Protestbewegung. Im Zweifelsfall werden die vielen Widersprüche des Projekts selbst dafür sorgen, dass diese angestrengten und sehr nach Absprache riechenden Entkoppelungsbemühungen nicht funktionieren werden. Aber selbst das größte Fiasko im weiteren Verlauf des Projekts wird nur zu dessen Beendigung führen, wenn die Bürgerbewegung aus den Vorlagen auch das entscheidende Tor macht.

Gruß von Werner