Liebe FreundInnen,

eigentlich, das heißt, wenn es mit rechten Dingen zugehen würde, hätte 2019 das Jahr des S21-Ausstiegs sein müssen. Aber das hätte man über all die Jahre zuvor auch schon sagen können.

  • 2019 war das Jahr des Offenbarungseids in der Kapazitätsfrage. Spät genug hatte das Bundesverkehrsministerium einen Zielfahrplan für Stuttgart 21 vorgelegt. Ergebnis letztlich: Die Leistungsfähigkeit von S21 reicht vorn und hinten nicht. Der Integrale Taktfahrplan, mit dem die DB bundesweit die Zahl der Fahrgäste bis 2030 verdoppeln will, ist mit Stuttgart 21 „absolut nicht fahrbar!“, so Dr. Christoph Engelhardt, der zusammen mit Prof. Wolfgang Hesse hierzu den mathematischen Beweis führte. Allein das ein zwingender Grund, das Projekt zu stoppen.
  • 2019 war auch wieder ein Jahr der Eskalation in der Kostenfrage. Diesmal in den größeren Kontext der Kostenkontrolle gestellt – zum wiederholten Mal vom Bundesrechnungshof. Im September war ein weiterer Bericht des BRH bekannt geworden, der nachdrücklich und erneut warnte, dass S21 noch teurer und noch später fertig werden würde und die bisherigen Mehrkosten schon „kaum tragbar“ und nicht gedeckt seien. Das Projekt müsse jetzt neu bewertet und der Umfang, soweit möglich, verringert werden.
    Erstmals schienen die Warnungen des BRH auf politisch fruchtbaren Boden zu stoßen. Jedenfalls schloss sich der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestags dieser Lageeinschätzung an – in einem einstimmigen Beschluss, also auch mit den maßgeblichen Stimmen von CDU und SPD. Auch dies hätte, ginge es mit rechten, das heißt rechtstaatlichen oder gerechten Dingen zu, das Aus von S21, zumindest ein Moratorium bedeuten müssen. Aber der ins Rollen gekommene Stein wurde wieder zum Stehen gebracht. Weder der Verkehrsausschuss, geschweige denn der Bundestag, griffen das Thema auf. Keine Partei stieg politisch ein. Die nächste Kostenexplosion, längst ein offenes Geheimnis, wird offiziell weiterhin verschwiegen und geleugnet.
  • Und 2019 war das Jahr, das die technischen Grenzen und den ganzen planerischen Dilettantismus von S21 deutlicher zutage treten ließ als jemals zuvor. Wo das Projekt ins Stolpern gerät, wo es „neu bewertet werden müsse“, listet eben dieser Bericht der BRH ganz ruhig und sachlich auf. Zusammengefasst liest sich das so:
    • Beim Tiefbahnhof (PFA 1.1) gibt es ein „erhärtetes Risiko“ bei der schwierigen Überbrückung der bestehenden S-Bahn und einen „Gegensteuerungsbedarf“. Die Fertigstellung der komplexen Tunnelstation mit sechs Metern Gefälle wird sich um mindestens ein halbes Jahr zu verzögern.
    • Beim Tunnelbau unter dem Neckar durch nach Obertürkheim (PFA 1.6a) hatte man nicht bedacht, dass Ende der 60er Jahre das historische Flussbett des Neckar 1,5 km nach Westen verlegt worden war und der Tunnel nun durch wasserführende geologische Schichten geführt werden muss. Seit September 2018 steht die Baustelle mehr oder weniger still wegen unerwartet großer Wassereinbrüche – 30 Liter pro Sekunde oder eine Badewanne alle fünf Sekunden.
    • Beim geplanten Abstellbahnhof Untertürkheim (PFA 1.6b) gibt es noch nicht einmal Baurecht, der Antrag wurde erst Ende 2018 eingereicht, also mehr als acht Jahre nach dem Start des Gesamtprojekts.
  • Der für das gesamte Projekt wohl kritischste Punkt ist die Fildertrasse (PFA 1.3.a und b), bei der 2019 ein multiples Planungsversagen publik wurde. Weil einerseits OB Kuhn und sein Baubürgermeister Pätzold an ihrer St.-Nimmerleins-Planung der Bebauung des Gleisvorfelds festhalten und die Gäubahnzufahrt zum Kopfbahnhof kappen wollen, andererseits die Züge aus Richtung Zürich/Singen auf unabsehbare Zeit nicht wie geplant über den Flughafen in den Tiefbahnhof einfahren können, ist in Vaihingen erst mal Endstation. Stuttgart ist für Fernreisende aus Südwest auf unabsehbare Zeit dann nur noch mit Umsteigen in die S-Bahn erreichbar.
    Nachdem die DB sich nicht mehr auf die zugesagten Verbesserungen (Taktverdichtungen) im S-Bahnverkehr auf den Fildern festlegen lassen wollte, wurde den bis dato S21-treuen Filderbürgermeistern mulmig. OB-Klenk von Leinfelden-Echterdingen beauftragte mit Prof. Eberhard Hohnecker einen unabhängigen Bahnwissenschaftler, der die Planungen der DB auf den Fildern in Grund und Boden kritisierte, inklusive Winnie Hermanns 3. Gleis am Flughafen. Das Konzept der DB sei nicht zukunftsfähig, S21 werde auf Kosten der Filder S-Bahn realisiert. Hic Rhodos, hic salta? Noch nicht. Den Gäubahnanrainern und den Filderkommunen schwillt zwar der Kamm, aber die S21-Reißleine zu ziehen, trauen sie sich noch nicht.
  • Vor allem war 2019 das Jahr der eskalierenden Klimakrise, aber auch des weltweiten Widerstands gegen die auf allen Ebenen versagende Politik in Sachen Klima. Damit war ein Thema aufgerufen, das von Anbeginn an konstitutiv für den Protest gegen Stuttgart 21 war. Es ging um den Kampf gegen das große Baumfällen im Schlossgarten, um das Mikroklima durch Schutz des Gleisvorfelds vor Bebauung und Bodenversiegelung, um Artenschutz, um Verkehr, der nicht durch eine Bahnhofsverkleinerung auf die Straße zurückverlagert werden soll. Gegeißelt wurden die zu erwartende Zunahme der Feinstaubemissionen und die mit S21 nie endenden massiven CO2-Emissionen durch den exzessiven Einsatz von Stahlbeton – Winnie Hermanns Verbesserungs- und Kompromissvorschläge eines zusätzlichen unterirdischen Kopfbahnhofs light oder unterirdisch anzubindender weitere Zuläufe von Zuffenhausen zeigen, dass es nicht mit der Fertigstellung einiger Tunnel sein Bewenden haben wird. Von Anfang an ging es der Bürgerbewegung letztlich um den Kampf gegen eine der Natur, dem Klima und dem Menschen gegenüber rücksichtslose Wachstumsphilosophie.Was man sich unter Apokalypse vorstellen kann, erleben gerade die Menschen, die vor den Waldbränden in Südost-Australien fliehen – „Rauchzeichen aus der Zukunft“ nannte das die taz – oder die Bürger*innen von Jakarta, der 10-Millionen-Metropole von Indonesien, die ihre Regierung als Hauptstadt aufgeben will, weil sie im Meer zu versinken droht. Zehn Jahre geben die Wissenschaftler*innen der Menschheit noch, radikal gegenzusteuern, um einer weltweiten Katastrophe zu entgehen, wenigstens das Schlimmste abzuwenden. Schon 2019 hätte das Jahr radikaler Konsequenzen in der Klimapolitik sein müssen. Die radikale Konsequenz vor Ort hätte, wenn es mit rechten Dingen zugehen würde, das Aus für den Klimakiller Stuttgart 21 sein müssen.

Jeder Einzelne dieser Punkte wäre für sich Grund genug gewesen, den Weiterbau zumindest zu stoppen, aber selbst der letzte und dramatischste Punkt konnte im vergangenen Jahr dem Projekt nichts anhaben. Das ist selbst an rechtstaatlichen Durchschnittsstandards gemessen ungewöhnlich.

Letztlich ist es die Große Weinberghäußle-Koalition aus Wirtschaft, maßgeblichen politischen Parteien und Medien, benannt nach einem Wengerthäusschen der IHK auf deren Weinberg hinter dem Hauptbahnhof, die weiterhin durch das Dick und Dünn der S21-Dramen das Projekt stützt. Mit von der Partie bis heute CDU und SPD, Wirtschaftsbosse von Herrenknecht über Stihl bis in die Bau und Immobilienwirtschaft, zu der ja der von Kuhn und Kretschmann hofierte Ex-OB Schuster beste Kontakte pflegt.

Und ganz entscheidend bis heute bei der Durchsetzung eines so einschneidenden Großprojekts: die Einbindung der Medien, namentlich der Stuttgarter Zeitungen, die ihre affirmative Rolle mal geradezu kampagnenförmig spielten, mal eher durch selektive Berichterstattung. Wie derzeit: viel Platz für Tunneldurchbrüche, Homestories aus dem Inneren des Projekts oder Tage der offenen Tür – und nichts oder nur das Unvermeidbare über die Defizite des Projekts und die Aktivitäten der Bürgerbewegung, z. B. die Beiträge der Montagsdemos oder die Pressemeldungen des Aktionsbündnisses. So auch wieder bei der letzten PM des AB zu den Desinformationen bei den Tagen der Offenen Baustelle und zu der Flyer-Verteilaktion der Ingenieure 22, die wiederum keine Erwähnung in der Berichterstattung der beiden Stuttgarter Zeitungen fand. Mitte Januar wird das Aktionsbündnis seine Kritik in einem Gespräch mit dem Lokalchef der Stuttgarter Zeitung vortragen.

Eine entscheidende Verschiebung der Kräfteverhältnisse, die erklären kann, warum trotz allem auch 2019 kein Projektabbruch gelang, ist der Seitenwechsel der kretschmannisierten Grünen in Stadt und Land. Vom maßgeblichen Faktor des Widerstands zu den kritischen Begleitern des Projekts, die sie nach der Volksabstimmung 2011 sein wollten, bis hin zu den angepassten Mitmachern dieser Tage (Kuhn: „S21 tut der Stadt gut“), die mit ihrem Insistieren auf der Bebauung des Rosenstein ein äußerst klimabelastendes Verkehrschaos provozieren. Bleibt an dieser Stelle zu hoffen, dass es bei der OB Wahl am 8. November des neuen Jahres kein Weiter-So mit Kuhn gibt, in dem sich ein/e zugkräftige Gegenkandidat*in findet, die die heraufziehende Klimakatastrophe wirklich ernst nimmt und die erforderlichen radikalen Konsequenzen zu ziehen bereit ist.

Die immer deutlicher werdenden Widersprüche und Grenzen des Projekts und die versagenden Verantwortlichen sind das eine, die Bürgerbewegung gegen S21, die Jungen, die um ihre Zukunft kämpfen, sind das andere. Global denken, lokal rebellieren …

ist das gemeinsame Motto, wie hier auf der Klimademo am 20.9. letzten Jahres, das 2020 endlich die nötige Radikalität in der Klimapolitik und Bewegung in den frozen conflict um Stuttgart 21 bringen muss.

Es gibt viele Gelegenheiten, sich einzuklinken: in den verschiedenen örtlichen oder Fachgruppen, an der Mahnwache, bei der Orga der Berlinreisen zu den AR-Sitzungen, als Vertreter*in einer Gruppe im Aktionsbündnis, im Demoteam, das die Montags- und Jubiläumsdemos organisiert, oder immer gern auch mit Spenden, z. B. an das Aktionsbündnis (IBAN DE 76 4306 0967 7035 8411 00 ) oder an umkehrbar e. V., dem Konto, über das die Demos mitfinanziert werden (IBAN DE 02 4306 0967 7020 6274 00).