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Stuttgart 21 – von Streichholzschachteln zu Schildbürgerstreichen

Aktuell gibt es in Deutschland und in der ganzen Welt schreckliche Ereignisse und Entwicklungen, zu denen ich meine Haltung, meine Sorgen, aber auch meine Hoffnung gern teilen möchte. Dazu gibt es aber zum Glück eine wachsende Zahl anderer Veranstaltungen, und Stuttgart 21 bleibt weiterhin ein fürchterliches Projekt in unserem Land.

In den letzten Monaten habe ich verschiedene Projektverantwortliche in einer Art und Weise erlebt, die den desolaten Zustand des Projekts deutlich werden lassen. Darüber will ich Euch heute berichten.

Am 26.07.2023 wurde ich zufällig Zeuge, als einer Gruppe mit Herrn Minister Hermann im ITS (Info-turm des Projekts S21) von Herrn Bösinger und Herrn Drescher (Geschäftsführer S21) Informationen mit einem sehr beschönigenden und tendenziösen Niveau gegeben wurden. Die extreme Bahnsteig-neigung von mehr als 6 Meter Höhenunterschied auf 400 Meter Länge (15‰) wurde relativiert, da kein Mensch einen solch langen Schritt machen könne. Auf einen großen Schritt von einem Meter würde dies nur der Höhe einer Streichholzschachtel entsprechen, und da könne nichts wegrollen. Ich selbst habe das Abrollen einer 80 Tonnen schweren Lok mit defekter Bremse bei etwa 1 Meter Höhe und den dadurch angerichteten Schaden beim Aufprall auf mehrere Wagen erlebt.

Bei der vom Minister initiierten Diskussion zum Nesenbachdüker wurde dessen Querschnitt zunächst mit etwa 30 m² richtig angegeben. Der Geschäftsführer der DB PSU (Projekt Stuttgart-Ulm) ergänzte diese Aussage auf „fast 50 m²“, was bei 3 Kanälen mit exakt 29,9 m² (0,8+4,6+24,5) doch sehr fragwürdig ist. Ebenso wurden die „fast 100 Züge“ hervorgehoben, die durch ETCS (European Train Control System) angeblich auf den 8 Gleisen des Halbtiefschrägbahnhofs in einer Stunde fahren könnten.

Wie die Fahrgäste über die für stündlich etwa 30 Züge geplanten Treppen und Fahrstühle und die schmalen Bahnsteige in diese Züge hinein bzw. heraus kommen, das wurde nicht erklärt. Leider war es dort nicht möglich, kritische Fragen an den Minister zu richten. Aber es war schon sehr bedenklich, mit welcher Märchenstunde eine Gruppe mit Verkehrsminister Hermann abgespeist wurde.

Die Leistungsversprechen der Deutschen Bahn werden genauso zusammenbrechen wie die Planungen der Kosten und der Termine. Das haben erstaunlicherweise sogar beim Verband Region Stuttgart fast alle Fraktionen verstanden. Wenn DB Regio und DB Netz zu den Problemen und Perspektiven der S-Bahn Stuttgart berichten, dann gibt es inzwischen Äußerungen wie: „Wir wurden belogen und werden es immer noch“, oder „diese Argumente haben wir schon 10-mal gehört, aber wir glauben sie Ihnen nicht mehr“. Das hätte es so vor einigen Jahren aus den Pro-S21-Fraktionen auf gar keinen Fall gegeben.

Auch bei den Zweckverbänden der Landkreise zum Betrieb bzw. zur Reaktivierung regionaler Eisen-bahnstrecken hört man (inoffiziell) solche Äußerungen wie: „Herr Drescher drischt sein Projekt [S21] ohne Rücksicht auf den Rest der Bahn und die Fahrgäste durch“, oder „durch S21 gibt es regelrechte Vergrämungsprogramme für die Fahrgäste“. Wird so das Absteigen von einem toten Pferd bzw. das Verlassen des sinkenden Schiffes vorbereitet?

Die Grünen müssen aufpassen, dass sie ihre konstruktive Begleitung des Projekts – kritisch war sie nur vor der Landtagswahl 2011 – nicht erst als Letzte aufkündigen. Bei einem Podiumsgespräch zur Zukunft der Mobilität in Ludwigsburg konnte ich wegen der gravierenden Streckensperrungen der S-Bahn dann doch die Frage an den Verkehrsminister richten: „Warum lassen sich die Projektpartner von Stuttgart 21 durch die Deutsche Bahn als Vorhabensträger erpressen?“ Seine Antwort schockierte nicht nur mich. Er sagte etwa: „Die Zeiten der Erpressung sind vorbei. Wir beraten im Lenkungskreis auf Augenhöhe den Stand des Projekts, stimmen Lösungen ab und klären Möglichkeiten für Verbesserungen“.

Mir gefällt diese eigenartige Position als Überleitung zu dem angekündigten Schildbürgerstreich von Stuttgart 21 eigentlich recht gut. Natürlich ist das ganze Projekt voller Schildbürgerstreiche, aber einer ist vielleicht noch nicht so bekannt. Sicher wisst ihr alle, dass die tapferen Bürger von Schilda beim Rathausbau die Fenster vergaßen. Das ist es bei S21 nicht. Da gibt es, bzw. soll es die Lichtaugen geben. Allerdings müssen in einem – vernünftigen – Bahnhof ja die Fahrgäste zu den Zügen und von dort auch wieder weg. Das soll trotz der vorher erwähnten „fast 100 Züge in einer Stunde“ über nur noch vier Bahnsteige erfolgen. Wer nicht das große Glück hat, dass sein Anschlusszug am gleichen Bahn-steig fährt, der muss Treppen, Rolltreppen oder Fahrstühle benutzen.

Für jeden Bahnsteig soll es fünf Treppen und sieben Rolltreppen geben – zu drei Zugangsstegen und zum Gang zur S-Bahn, der wegen des besonderen Querschnitts sogenannten „Kartoffel“. Der Haupt-zugangssteg in der Mitte des Halbtiefschrägbahnhofs soll für jeden Bahnsteig zwei Treppen mit vier Rolltreppen erhalten. Dann bleiben noch drei Treppen mit nur noch drei Rolltreppen. Aus Platzgrün-den werden die Treppen zum nördlichen und südlichen Zugangssteg und zur S-Bahn jeweils nur eine Rolltreppe bekommen. Ob die dann aufwärts oder abwärts läuft oder darauf wartet, dass mal gar kein Fahrgast kommt, um ggf. die Richtung zu ändern, das weiß ich leider nicht.

Nun fällt es ja schwer zu sagen, dass die fehlenden Rolltreppen vergessen wurden. Es liegt am fehlen-den Platz und der liegt am geringen Abstand zwischen der verbliebenen Attrappe des Bonatzbaus und dem Gebäude der LBBW. Aber vom bzw. zum nördlichen und südlichen Verbindungssteg müssen die Fahrgäste eine weitere Treppe bewältigen oder einen Fahrstuhl benutzen. Nach Norden in Richtung zur ehemaligen Bahndirektion soll es neben der wirklich breiten Treppe die erwarteten zwei Rolltrep-pen geben. Das kann sich jeder auch in einer Simulation im ITS anschauen.

Etwas anders sieht es am südlichen Verbindungssteg aus. Über diesen soll die Haltestelle „Staatsgalerie“ der U-Bahn direkt erreichbar werden. Diese neue Anbindung wird als großer Vorteil von S21 gepriesen. Unter einer großen Glaskuppel wird auch dort eine breite Treppe geplant. Aber wer sich die Simulation genau anschaut, der muss leider feststellen, dass dieser südliche Zugang nur eine Roll-treppe hat. Erst habe ich gedacht, dass die Programmierer bei der Simulation einen Fehler gemacht haben. Eine Nachfrage beim ITS hat aber nach 3 Wochen die stolze Antwort ergeben, dass sie keinen Fehler gemacht hätten, sondern dass dies von Herrn Ingenhoven so geplant sei. Dies hat mir auch die Bauleitung so bestätigt. Das kann doch wohl nicht wahr sein, aber an diesem Thema hat sich seit einem Jahr nichts geändert. Aktuell habe ich bei OB Nopper angefragt, ob sich die Stadt Stuttgart diesen Schildbürgerstreich leisten will. Statt der erhofften Antwort: „Ja, die zweite Rolltreppe wird einge-baut“ gibt es auch hier seit 3 Monaten keine Reaktion.

Der Murks21 wird immer schlimmer. Aber ich finde, dass wieder mehr Menschen dies auch erkennen und sich offener dazu äußern. Das gibt mir Hoffnung und bedeutet bei aller Verzweiflung auch „Kopf hoch“ und Umstieg21.