(hier der Offene Brief als pdf-Datei)

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Olaf,

gestatten Sie, dass ich mich wegen eines Themas an Sie wende, welches für die Innovationsfähigkeit Deutschlands von zentraler Bedeutung ist: das Programm „Digitale
Schiene Deutschland”.

Mit der geplanten Digitalisierung der Schiene kann die Kapazität des bestehenden Netzes um 20 bis 35 Prozent gesteigert werden, ohne dass Neubaumaßnahmen in Beton gegossen werden müssen. Zur Realisierung haben das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) die Deutsche Bahn AG (DB) die Umsetzung mehrerer Pilotprojekte vereinbart.

Eines dieser Pilot- und Leuchtturmprojekte ist der national wie international beachtete „Digitale Knoten Stuttgart”. Experten zufolge ist das Potenzial der Effizienz- und Kapazitätsgewinne in einem komplexen Bahnknoten ungleich höher als auf freier Strecke. Darum sind die Erfahrungen aus diesem Projekt bundesweit und insbesondere für die weiteren Projekte in den Knoten Hamburg, Frankfurt und München von herausragender Bedeutung.

Die Umsetzung des Projekts „Digitaler Knoten Stuttgart” droht jedoch aktuell zu scheitern. Grund hierfür ist, dass der DB-Vorstand Ende letzten Jahres eine Finanzierungsvereinbarung für den entscheidenden sogenannten 3. Baustein des „Digitalen Knotens Stuttgart” unterzeichnete, sich in diesem Zuge jedoch einen Gremienvorbehalt auferlegte und bislang nicht bereit ist, diesen aufzuheben.

In diesem Zusammenhang ist für mich alarmierend, dass die DB darauf verweist, dass die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 auch mit den derzeit in Umsetzung befindliche ersten beiden Bausteinen möglich sei. Doch erst Baustein 3 schließt die Realisierung der kapazitätssteigernden Elemente ein. Ohne Baustein 3 leistet der „Digitale Knoten Stuttgart” nicht, was er verspricht und die mögliche Kapazität von Stuttgart 21 kann nicht voll genutzt werden. Zudem fehlen zentrale Erkenntnisgewinne für die Umsetzung der Vorhaben in Hamburg, Frankfurt und München.

Mit Schreiben vom 6. Juni 2024 teilte Herr Michael Theurer MdB, Parlamentarischer
Staatssekretär beim Bundesminister für Digitales und Verkehr, Herrn Landesverkehrsminister Winfried Hermann MdL mit, dass die Pilotprojekte der „Digitalen Schiene Deutschland” inklusive der von der DB zu erbringenden Eigenmittel durchfinanziert seien und sich die Bundesregierung hinsichtlich des „Digitalen Knotens Stuttgart” für eine Aufhebung des Gremienvorbehalts sowie eine Fortsetzung des Projektes einsetze.

Nach unserem Eindruck versucht die DB jedoch, die hierfür reservierten Bundeshaushaltsmittel auf die Sanierung des Bestandsnetzes umzulenken. Bei allem Verständnis dafür, dass das Bestandsnetz hohe Priorität genießt, darf im Poker um die knappen Mittel nicht die wichtige Zukunftsinvestition in die „Digitale Schiene” geopfert werden.

Im Übrigen hätte eine Absage auch eine industriepolitisch fatale Signalwirkung für den gesamten Bahnsektor. So verantwortet die frühere Thales-Bahntechniksparte – heute zu Hitachi Rail Ltd. gehörend – die Ausstattung des „Digitalen Knotens Stuttgart”. Dafür investiert das Unternehmen derzeit erhebliche finanzielle und personelle Ressourcen. Sollten das Pilotvorhaben in Stuttgart und in dieser Folge die Digitalisierung weiterer Bahnknoten scheitern, birgt dies auch Risiken für die weitere Produktentwicklung im Bahnsektor. Damit droht Deutschland ein umfassender Innovations- und Kompetenzverlust in einem für die Zukunft der Schieneninfrastruktur zentralen Feld.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich bitte Sie eindringlich, gemeinsam mit dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr und der Deutschen Bahn AG dafür zu sorgen, dass der Gremienvorbehalt rasch aufgehoben wird und die im Bundeshaushalt eingestellten Mittel für die „Digitale Schiene” dafür eingesetzt werden, wofür sie eingeplant sind, nämlich für die digitale Zukunft der deutschen Schiene.

Eine Mehrfertigung dieses Schreibens überlasse ich Herrn Dr. Volker Wissing, Bundesministerfür Digitales und Verkehr, Herrn Dr. Richard Lutz, Vorstandsvorsitzender der DB AG und Herrn Werner Gatzer, Vorsitzender des Aufsichtsrats der DB AG. Weitere Mehrfertigungen übersende ich Herrn Dr. Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, aufgrund der wirtschaftspolitischen Relevanz dieses Themas sowie den Staatskanzleien des Freistaats Bayern, des Landes Hessen und der Senatskanzlei der Freien und Hansestadt Hamburg aufgrund deren Betroffenheit im Rahmen der Pilotprojekte zur „Digitalen Schiene Deutschland”.

Mit freundlichen Grüßen
Winfried Kretschmann