(im Folgenden die – anonymisierten, aber ansonsten auch orthographisch unveränderten – Original-Mails, die der Verfasser an einen breiten Verteiler von Aktionsbündis-Mitgliedern verschickt hatte)

Betreff: Ihre Aktion zur EM mit einem Schild an der Mahnwache

Guten Tag,

unser … unternehmen ist … ansässig. Mit einem Jahresumsatz von rund … bezahlen wir einen ganz ordentlichen Gewerbesteuersatz und der Anteil der Einkommenssteuer, der an die Stadt geht ist auch nicht ganz klein. Ich bin immer wieder schockiert, wie sich unser Verwaltungsapparat entwickelt hat, egal ob Zuklassungsstelle, Bürgerbüro usw..

Ich habe Verständnis für Ihr Aktionsbündnis und bin sehr für Meinungsfreiheit. Auch Sie äußern ja an sehr herausragender Stelle mit Ihrer Mahnwache Ihre Meinung. Es geht mir hier auch überhaupt nicht um das Projekt Stuttgart 21.

Ich hätte nie gedacht, dass es Menschen gibt, die Ihre Stadt und Region so hassen, dass Sie solch ein Schild aufhängen udn damit auch jeden einzelnen Einwohner und -für mich umso schlimmer Unternehmen hier quasi per se einbinden nach dem Motto „wir Stuttgarter snid alle blöd“ ! Nichts anderes spricht aus Ihrem Schild und ich finde es beschämend gegenüber meinen Kunden udn Besuchern, die so ein Schild lesen müssen. Und genau so wird in meinem geschäftlichen und privaten Umfeld mit Kopfschütteln reagiert. Müssen wir uns wirklich gegenüber unseren Gästen als komplette Stadt lächerlich machen ? Natürlich finde ich auch die weiten Wege und Behinderungen furchtbar. Ich hole eben meine Gäste über das DB Parkhaus kostenlos direkt an den Gleisen ab oder bringe sie hin (15 Minuten-Regel). Aber wie gesagt, darum geht es nicht. Wir Unternehmer sind darauf angeiesen, einen guten Eindruck als Region und Stadt zu hinterlassen bei allen Problemen mit dieser Baustelle.

Darüber hinaus beinhaltet Ihre Darstellung auf dem Plakat die Aussage „Germanys craziest railway station in construction … for 11,5 billion – so far“. Übersetzt bedeutet das, dass Sie gegenüber unseren Gästen behaupten, dass der neue Bahnhof 11,5 Milliarden Euro kostet. Das ist meiner Information nach schlicht unwahr. Ist es nicht so, dass in den 11,5 Mrd. „so far“ 57 km Bahnstrecke, viel davon in Tunneln und vier Stationen, darunter der HBF und der Filderbahnhof, enthalten sind ? Wenn ja, dann kommunizieren Sie doch bitte ehrlich.

Ich habe mich nie mit dem Projekt beschäftigt und dessen Notwendigkeit für mich nicht in Frage stellt. Ich bin eben ein Schlafschaaf, dass mit dem eigenen Kram genug zu tun hat.

Ich möchte aber weder als Stuttgarter Einwohner, noch als Unternehmer als „crazy“ gegenüber meinen Gästen und Partnern gelten. Ich habe dieses Projekt nicht entschieden. Ich möchte Sie bitten, das Schild umgehend für den Rest der EM zu entfernen und mit Ihrem üblichen Mahnwachen-Dasein fortzufahren.

Mit freundlichen Grüßen / Kind regards

 

Sehr geehrter Herr …,

vielen Dank für Ihr freundliches Schreiben, in dem Sie freilich großen Missfallen an dem Banner äußern, das wir zur EM an der Mahnwache angebracht haben. Das tut uns sehr leid, dass diese Aktion bei Ihnen auf so große Ablehnung und Unverständnis stößt. Wir wollen natürlich niemanden persönlich verletzen.

Sie räumen ein, dass Sie sich nie mit dem Projekt Stuttgart 21 beschäftigt hätten. Das scheint uns auch Ihr großes Entsetzen zu erklären, das Sie sogar glauben lässt, wir „hassten“ Stuttgart. Aber es ist natürlich das Gegenteil der Fall: Wir lieben Stuttgart, und wir würden es gerne retten vor diesem großen Unglück, das Stuttgart 21 für Stadt und Region bedeuten würde, wenn es in Betrieb ginge.

Sie schreiben: „Wir Unternehmer sind darauf angewiesen, einen guten Eindruck als Region und Stadt zu hinterlassen“. Genau darum geht es auch uns. Und ich möchte Ihre Aussage gerne verlängern: Sie als Unternehmer sind ganz gewiss auch darauf angewiesen, einen guten öffentlichen Nah- und Fernverkehr zu haben, und Straßen, die deshalb nicht ständig von Staus verstopft sind.

Erlauben Sie mir deshalb, dass ich Ihnen wenigstens holzschnittartig die wichtigsten Probleme dieses hoch komplexen Projekts beschreibe (und verzeihen Sie bitte, dass das nicht in wenigen Sätzen geht):

Der im Bau befindliche Tiefbahnhof hat nur 8 Gleise, während der Kopfbahnhof 16 hat. Diese 16 Gleise werden auch gebraucht, um attraktive Umsteigemöglichkeiten für alle Züge in alle 14 Destinationen (Fern- und Nahverkehrszüge getrennt gerechnet) zu haben, die von Stuttgart aus erreicht werden sollen.

Da es bundesweit keinen größeren Bahnhof gibt, in dem mehr als 4 Züge pro Stunde und Gleis so abgefertigt werden können, dass auftretende Verspätungen wieder aufgefangen werden können, reichen die geplanten 8 Gleise nur für 32 Züge in der Spitzenstunde. Schon heute fahren in Stuttgart aber 37 Züge in der Spitzenstunde, und angesichts des Klimawandels muss der Bahnverkehr in Stuttgart auf bis zu 50 Züge erweiterbar sein. Der Tiefbahnhof ist jedoch um kein einziges Gleis erweiterbar. Der Stuttgarter Hauptbahnhof würde zur täglichen Verspätungsursache für zahllose Züge – mit bundesweiten Auswirkungen.

Da auch die Bahn bei der Planung des Tiefbahnhofs nur mit 32 Zügen gerechnet hat, sind auch alle Aufzüge und Treppen nur auf die entsprechenden Personenzahlen ausgerichtet und wären durch eine – politisch gewollte und unbedingt notwendige – Verdoppelung der Fahrgastzahlen hoffnungslos überlastet, mit allen Gefahren, die das schon im Alltag mit sich bringt, besonders aber in Notfällen. Nachrüstung auch hier nicht möglich.

Damit der Tiefbahnhof von auswärts erreicht werden kann, sind fast 60 km an Bahntunnels gebaut worden und inzwischen im Rohbau fertig. Diese Tunnels erfüllen – aus Kostengründen – in allen sicherheitsrelevanten Punkten lediglich die Minimalanforderungen (vergleichbar mit einem Lehrling, der in allen Fächern eine 4– hat, aber Spitzenleistungen bringen soll): Sie sind zu eng, teilweise sehr steil, haben zu wenig Sicherheits-Querschläge zur Nachbarröhre, und die Nachbarröhre ist als Fluchtziel nur begrenzt geeignet, weil dort ja zunächst weiterhin Züge fahren. Das alles führt dazu, dass z.B. bei einem Zugbrand sich der binnen einer Minute tödliche Rauch erheblich schneller ausbreiten kann, als sich die Fahrgäste in Sicherheit bringen können (Beispiel: Bei einem Zugbrand in Montabaur dauerte die Evakuierung 45 Minuten – zum Glück im Freien –, der tödliche Rauch hätte im S21-Tunnel nur wenige Minuten gebraucht, um auch die letzten Fahrgäste zu erreichen.)

Sie werden sich fragen, ob das wahr sein kann. Was die Verantwortlichen denn dazu gebracht haben könnte, einen derart schlechten und gefährlichen Bahnhof neu zu bauen. Die Antwort ist: Die Stuttgarter Wirtschaft – allen voran die Bauwirtschaft – hat in der Beseitigung der heutigen Kopfbahnhofgleise die Möglichkeit gesehen für einen neuen Stadtteil und für riesige Investitionen des Bundes in unserer Landeshauptstadt. Die Qualität des Zugverkehrs war ihnen so gleichgültig, dass sie sich einfach gesagt haben: Das wird schon irgendwie klappen. Aber es klappt nicht. Am Rande gesagt, ist es sicher der Stuttgarter Automobilwirtschaft kein Ärgernis, wenn ein schlechter Bahnhof die Menschen zwingt, weiterhin Auto zu fahren. Im Übrigen würde der neue Stadtteil, das Rosensteinquartier, mitten in der vom Stuttgarter Talkessel dringend gebrauchten Haupt-Frischluftschneise gebaut, und das Entfernen der Gleise würde die Entfernung eines zentralen Kühlkörpers für’s überhitzte Stuttgart bedeuten.

Noch ein Wort zu den Kosten: Es ist in der Tat so, dass die 11,5 Milliarden ausschließlich nicht für(!), sondern wegen(!) des Tiefbahnhofs ausgegeben werden. Denn der Tiefbahnhof wäre völlig nutzlos ohne die zu ihm führenden Tunnels. Und die neuen Stationen werden gebaut, weil sie den S21-Tunnels und -Gleisen im Wege sind. Lediglich beim Flughafenbahnhof haben Sie recht: Der muss nicht wegen des Tiefbahnhofs gebaut werden, sondern dieser Bahnanschluss war ein Hauptziel der Landesregierung, um durch S21 den Flugverkehr zu fördern (was wir für klimapolitisch untragbar halten). Allerdings liegt er acht Gehminuten vom Flughafen entfernt, während die S-Bahn-Station sich direkt unter dem Terminal befindet und über sie der Flughafen mit einer Express-S-Bahn fast genauso schnell erreicht werden könnte wie mit den Zügen vom Tiefbahnhof aus.

Es gäbe noch viele Details zu nennen. Aber ich hoffe, Ihnen auf diese Weise wenigstens erste Einblicke in die Abgründe des Projekts Stuttgart 21 eröffnet zu haben. Sie werden nun vielleicht verstehen, dass wir uns nicht einfach an der Baustelle oder den langen Umwegen stören, sondern daran, dass mit diesem Projekt mutwillig eine klimataugliche Zukunft Stuttgarts dauerhaft verspielt wird. Und um die Besucher Stuttgarts darauf aufmerksam zu machen, dass Stuttgart gerade dabei ist, „Germanys craziest railway station“ zu bauen, halten wir unser Banner immer noch für ein geradezu harmloses Mittel – angesichts des Unheils, das der Stadt Stuttgart – und übrigens auch den hiesigen Unternehmen – damit droht.

Mit freundlichen Grüßen,

Martin Poguntke, Sprecher Aktionsbündnis gegen S21

 

Guten Tag Herr Poguntke,

vielen Dank für Ihre schnelle Rückäußerung und Ihre interessanten Ausführungen mit neuen Erkenntnissen für mich. Wie schon gesagt geht es mir nicht um das Projekt und den Protest an sich, den ich für völlig legitim halte. Ich finde es einfach nicht gut und für die vielen Unternehmer in der Stadt und der Region Ruf schädigend, wenn man ein Schild aufhängt nach dem Motto „sorry für die Unnaehmlichkeiten, wir sind halt bescheuert“. Man hätte hier nicht für die EM eine solche Sonderaktion gebraucht, um den Protest weiter zu führen.

Kurze Frage noch zur Mahnwache, verlangt die Stadt eigentlich Standgebühren für den Standort ?

Mit freundlichen Grüßen / Kind regards

 

Sehr geehrter Herr …,

vielen Dank für Ihre noch schnellere Antwort, in der Sie aber immer noch Unverständnis und Empörung über unser Banner zeigen.

Erlauben Sie mir noch einmal, um Verständnis bei Ihnen zu werben:

Zunächst: Ich fürchte, Sie verwechseln Ursache und Wirkung: Ursache dessen, dass sich Stuttgart und die Deutsche Bahn weltweit blamieren, ist dieses unsinnige und zerstörerische Immobilienprojekt zum Schaden der Bahn. Nicht wir schädigen den Ruf von Stadt und Region, sondern – in erster Linie – die IHK und ihre Freunde in Politik und Stadtverwaltung. Wir sind Ehrenamtliche, die im Unterschied zu den Betreibern des Projekts keinerlei Entscheidungsbefugnis haben und deshalb mit unseren begrenzten Mitteln versuchen müssen, Stuttgart und die Region davor zu retten.

Dann: Wir machen wirklich nicht aus Jux und Tollerei Stadt und Region vor dem internationalen EM-Publikum lächerlich, sondern in Notwehr. Wir richten diesen vergleichsweise kleinen Schaden an, um einen ungleich größeren vielleicht noch zu verhindern. Vielleicht kennen Sie das aus Ihrem Unternehmer-Alltag: Manchmal muss man unangenehme Entscheidungen treffen, um einen größeren Schaden zu vermeiden. So müssen wir mit unserer kleinen Kraft versuchen, die Leute, die aus Geldgier dieses Projekt auf den Weg gebracht haben, an der offenbar einzigen Stelle zu treffen, an der sie wirklich zu treffen sind: an der Sorge um ihre Gewinne.

Aber Sie schreiben ja, Ihnen gehe es nicht um das Projekt und den Protest dagegen. Vielleicht können Sie deshalb auch einfach nicht verstehen, dass wir diese und andere Aktionen des Widerstands aus hohem ethischem Verantwortungsbewusstsein und, wie ich finde, mit großem moralischem Recht durchführen – auch wenn vordergründig dadurch hier oder da wirtschaftlicher Schaden entstehen mag. Langfristig verhindern wir damit ja einen riesigen wirtschaftlichen Schaden für Stadt und Region – jedenfalls hoffen wir das weiterhin.

Mit freundlichen Grüßen,

Martin Poguntke