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Stuttgart 21: Nachvollziehbare Begründungen als Basis für Milliardeninvestitionen

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Olaf Scholz,
Ministerpräsident Winfried Kretschmann schrieb Sie gestern an mit der Bitte, die Finanzierung des 3. Bausteins des „Digitalen Knotens Stuttgart“ sicherzustellen, da er für die Kapazität von Stuttgart 21 entscheidend sei.
Wir vom Faktencheckportal WikiReal.org sind wie MP Kretschmann gleichermaßen besorgt um die Funktionsfähigkeit des Bahnverkehrs in der Region Stuttgart sowie der Bahnmagistralen, die hier verlaufen. Wir sind aber auch besorgt um die mutmaßlich nicht nur nutzlosen, sondern vielmehr schädlichen, und viele zusätzliche Risiken schaffenden Investitionen von Milliarden Euro Steuergeld im Zuge des Projekts Stuttgart 21.
Die milliardenschweren Ergänzungsprojekte wie etwa weitere Zulauftunnel sollen nur die Fehlpla-nungen des Projekts Stuttgart 21 kompensieren. Insbesondere soll der neue geschaffene Engpass des von 17 auf 8 Bahnsteiggleise verkleinerten Bahnhofs mittels des Digitalen Knotens Stuttgart ertüch-tigt werden. Im ersten Ansatz sind für den Digitalen Knoten rund eine halbe Milliarde Euro veran-schlagt. Wir sind besorgt, dass diese Investitionen auf vollkommen unsubstantiierter Basis getätigt werden.
Ministerpräsident Kretschmann hatte sich zu dem bisherigen „Leuchtturmprojekt“ Stuttgart 21 (Bahnchef Grube, 29.11.2010) folgendermaßen geäußert (18.12.2018): „Bei Stuttgart 21 ist alles eingetreten, was die Gegner befürchtet hatten.“ Er schreibt nun zum neuen „Leuchtturmprojekt“ des Digitalen Knotens Stuttgart: „Experten zufolge ist das Potenzial der Effizienz- und Kapazitätsgewinne in einem komplexen Bahnknoten ungleich höher als auf freier Strecke.“
Wir bitten Sie, lassen Sie sich vor einer Entscheidung über die Investition weiterer Milliardenbeträge die genannte Aussage des Ministerpräsidenten nachvollziehbar belegen. Uns ist keine belastbare Untersuchung bekannt, die eine solche Erwartung stützt. Als Gründer des Faktencheckportals Wiki-Real.org habe ich hierzu in einem kürzlich erschienen Interview Stellung bezogen (https://www.nachdenkseiten.de/?p=116773, https://www.nachdenkseiten.de/?p=116902). Kapazitätserwartun-gen durch die Digitalisierung bestehen allenfalls auf der freien Strecke, wenn überhaupt nur in sehr geringem Maße im Bahnhof, der bei S21 aber der Flaschenhals ist. Die Aussagen zu der Kapazitätssteigerung im Digitalen Knoten Stuttgart basieren lediglich auf „Konjunktiven, Möglichkeiten, Erwar-tungen und selektiver Betrachtung einzelner Zeiten“. Und was „zum Beweis fehlt, sind die Betriebs-simulationen, Praxistests oder internationale Studien, die harte Belege liefern für das Ausmaß des Kapazitätsgewinns“.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, stellen Sie sicher, dass derartige nachvollziehbare Nachweise geliefert und öffentlich gemacht werden, bevor weitere Milliarden investiert werden. Ansonsten schadet sich der Standort Deutschland mit einer weiteren nicht ausreichend geprüften Investitions-entscheidung. Gerade das Projekt Stuttgart 21 liefert schon genug „Milchmädchenrechnungen“ (sie-he Interview) etwa zu den unbeherrschten Gefahren der überhöhten Bahnhofsneigung, der durch das Projekt enorm gestiegenen Gefahr der Überflutung der unterirdischen Verkehrsanlagen in Stutt-gart und den engsten Bahnsteigen für einen Bahnhof mit dem größten Fahrgastwechsel.
Insbesondere aber ein Planungsmangel stellt offenbar die Inbetriebnahme des Gesamtprojekts kom-plett in Frage. Es ist wie beim Flughafen BER der Brandschutz. Wie in dem Interview ausführlich be-gründet, wurde bei den S21-Tunneln offenbar nicht geprüft, ob die „Selbstrettung gewährleistet“ ist, also eine Evakuierung im Brandfall gelingen kann (https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/stuttgart/stuttgart-21-brandschutz-weiter-in-der-kritik-100.html). Angesichts halb so breiter Rettungswege wie üblich und drei- bis viermal so vieler Zuginsassen wie anderswo und einer doppelt so schnellen Verrauchung in den stark verengten Tunnelröhren erscheint eine rechtzeitige Evakuie-rung absolut nicht möglich. Das gilt insbesondere im Vergleich zu allen anderen doppelröhrigen Tun-neln weltweit, die um viele Faktoren sicherer gebaut sind. Sowohl die Bahn als auch das Eisenbahn-Bundesamt bringen zu den sieben ungeklärten Kernfragen zum Tunnelbrandschutz aus unseren offe-nen Briefen keinerlei Entkräftung der Sachkritik vor. Eine derartig unverantwortliche Sprachlosigkeit der Verantwortlichen gefährdet das Ansehen Deutschlands als Ingenieurnation.
Bevor über die Investition in weitere milliardenschwere Ergänzungsprojekte von Stuttgart 21 ent-schieden wird, wäre doch der erste Schritt, nachvollziehbar zu klären, ob eine Inbetriebnahme des Bahnknotens überhaupt zu verantworten ist.
Ich fordere daher zu einem professionellen öffentlichen Faktencheck heraus. Das bisherige Vorgehen mit zweifelhaften Gutachten, vermeintlichen Fachartikeln voller Konjunktive aus der Feder der Pro-jektmacher erscheint tatsächlich wenig effektiv. Sehr geehrter Herr Bundeskanzler sorgen Sie dafür, dass das in Deutschland reichlich vorhandene Know-how in eine nachvollziehbare Faktenklärung investiert wird, statt dass Worthülsen Milliardenentscheidungen der Politik begründen.
Garching, 27.06.2024
gez. Dr. Christoph Engelhardt