Brief an verkehrs- und finanzpolitische Verantwortungsträger bundesweit
Das Aktionsbündnis hat – gemeinsam mit VCD-Kreisverband Stuttgart und der Schutzgemeinschaft Filder – einen Brief an verkehrs- und finanzpolitische Verantwortungsträger bundesweit geschrieben, mit folgendem Inhalt:
(hier der Brief als pdf-Datei)
Sehr geehrte Damen und Herren
Im Oktober 2023 hat der Bundestag in Umsetzung der EU-Verordnung 2021/782 eine Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) beschlossen, in Kraft getreten am 29. Dezember. Darin wird der Erhalt von Schieneninfrastruktur als im überragenden öffentlichen Interesse liegend erklärt. Eine Entwidmung ist nur noch zu sehr begrenzten Zwecken statthaft, wozu – auch nach Auffassung des Eisenbahnbundesamts – Wohnungsbau nicht zählt.
Damit ist eine Entwidmung des Gleisvorfelds des Stuttgarter Kopfbahnhofs nicht mehr möglich. Dies betrifft den fast fertiggestellten Tiefbahnhof Stuttgart 21 nicht unmittelbar. Umso mehr mittelbar, weil damit die Bebauung des abgeräumten Gleisvorfelds mit einem neuen Stadtteil namens Rosensteinquartier nicht mehr möglich ist. Dieses Stuttgarter Immobilienprojekt aber war und ist die eigentliche Motivation für Stuttgart 21, während die bahnbetriebliche Frage der Funktionalität des Ersatzbahnhofs nie eine maßgebliche Rolle spielte.
Nun schwärmen zahllose S21-Lobbyisten über Parteischienen und Verbände Richtung Berlin aus, um ihr hiesiges Immobilienprojekt mit einer verwässernden Gesetzesänderung, quasi einer Lex Stuttgart 21, doch noch zu retten. Damit wäre dann auch der Intention der AEG-Neufassung die Spitze gebrochen, die der Schiene im Sinne der Verkehrswende eine höhere Priorität einräumen sollte. Flankiert werden diese Vorstöße durch mediale Attacken von Vertretern der Bauwirtschaft, die ihre Felle davon schwimmen sieht und z.B. auch vom Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper, der per SWR-Interview am 30.7.2024 meinte: „Ganz offensichtlich war sich der Bundesgesetzgeber bei der Novellierung von Paragraf 23 der Tragweite seiner Entscheidung nicht bewusst, oder er befand sich jedenfalls mehrheitlich in einem Zustand kollektiver legislativer Verirrung.“
Angesichts der globalen Erhitzung, besonders angesichts der Stuttgarter Kessellage, an einer mikroklimatisch hochsensiblen Stelle einen neuen Stadtteil mit bis zu 21 Meter hoher Bebauung hinzusetzen, ist ohnehin nicht zu verantworten – und sei die Bebauung selbst noch so umweltschonend. Es würde, so warnen Stadtklimatologen, die für die nächtliche Abkühlung der Innenstadt entscheidende Frischluftschneise Richtung Neckar zugebaut.
Finanzpolitisch war Stuttgart 21 schon immer eine Fehlallokation von Mitteln für den Bahnverkehr. Finanzielle Ressourcen der Bahn und mittelbar des Bundes flossen nicht in die vielen sinnvollen Bahnreparatur und -ausbauprojekte im ganzen Land, sondern in ein Bahnprojekt, das eigentlich ein Stuttgarter Immobilienprojekt und bahnverkehrlich sinnlos, ja kontraproduktiv ist. Dem nachvollziehbaren Versuch der DB, die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg wenigstens anteilig an den bisher nicht gedeckten Mehrkosten von 6,5 Mrd. € (bei einem Gesamtkostenstand von 11,5 Mrd. €, Anfang 2024) zu beteiligen hat das Verwaltungsgericht Stuttgart im Mai dieses Jahres einen Riegel vorgeschoben und eine Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.
Eine Verwässerung des AEG § 23 würde einer weiteren Fehlallokation von Bahnmitteln Richtung Stuttgart Tür und Tor öffnen. Schon jetzt sind umfangreiche sogenannte Ergänzungsprojekte in der Planung, die, eingestanden oder nicht, die offenkundigen Funktionsdefizite des Projekts v.a. in puncto Kapazität beheben sollen – aber nicht können. Denn das Kapazitätsproblem ist nicht in fehlenden Zulaufstrecken, sondern in der Flaschenhalswirkung des Tiefbahnhofs begründet. Vorgesehen sind weitere 47 km Tunnelbau (auf dann über 100 km Tunnel) mit immensen CO2-Belastungen, bei Kosten von etwa 7 Mrd. € (bei derzeitigem Baupreisniveau).
Auch für dieses Stuttgart 21/2 würden wieder in Milliardenhöhe Bahn- bzw. Bundesmittel in Anspruch genommen. Dies soll nach den Vorstellungen der S21-Planenden teils über verdeckte Querfinanzierungen geschehen. So z.B. bei der Finanzierung des Pfaffensteigtunnels, der mit 2 x 11,5 km Deutschlands längster Eisenbahntunnel wäre. In der Planfeststellung wird er als Teil der seit langem überfälligen Sanierung der Gäubahn deklariert und soll so nicht aus S21-Mitteln, sondern über den Bundesverkehrswegeplan finanziert werden.
Das Kalkül, für (das Immobilienprojekt) Stuttgart 21 möglichst in die Bundeskassen zu greifen, liegt auch bei der Implementation von ETCS vor. Durch die Kreation eines modellhaften „Digitalen Knotens Stuttgart“ sollen bevorzugt Mittel in das S21-Projekt fließen, das ohne klassische Zugsteuerung geplant wurde. Angesichts eines dramatischen Schuldenstands der DB von derzeit 36 Mrd. € hat der Bahnvorstand gut daran getan, diese Querfinanzierung von Stuttgart 21 per Gremienvorbehalt erstmal zu stoppen. Die Argumentation, ausgerechnet eine Implementation von ETCS in das S21-Planungschaos könne eine Leistungssteigerung von völlig aus der Luft gegriffenen 30 % bewirken, ist maximal abwegig.
Wir bitten Sie also: lassen Sie eine Lex Stuttgart 21 nicht zu. Verhindern Sie, dass in einer hochprekären Lage aller öffentlichen Haushalte anderswo dringend benötigte Finanzmittel weiter in das Stuttgarter Milliardenfass ohne Boden fließen. Nur der Erhalt des Kopfbahnhofs kann die Leistungsfähigkeit, erst recht im Blick auf die erwünschten Zuwächse auf der Schiene, gewährleisten. Ohnehin nicht hilfreiche milliardenteure Ergänzungsprojekte würden sich erübrigen.
Im Zuge unserer langjährigen kritischen Verfolgung des Projekts hat sich sehr viel Expertise in den vielen Details dieses komplexen Projekts aufgebaut. Gern versorgen wir sie mit Informationen und stehen auch für Gespräche zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Poguntke, Sprecher Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, 0151 403 602 56
Werner Sauerborn, Geschäftsführer Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, 0171 320 98 01
Ulrich Heck, Vorsitzender VCD Kreisverband Stuttgart, 0711 342 086 20
Steffen Siegel, 1. Vorsitzender Schutzgemeinschaft Filder e.V., 0162 692 51 86
Frank Distel, 2. Vorsitzender Schutzgemeinschaft Filder e.V., 0171 959 72 73