Werner Sauerborn auf der 458. Montagsdemo auf dem Stuttgarter Schlossplatz

Zugegeben, die Grünen regen uns auf. Auch zugegeben: da ist eine gute Portion Emotionalität dabei. Andererseits stehen wir ja in dem wohlverdienten Ruf einer Bewegung der Rationalität und guten Argumente. Wie berechtigt ist also unsere Empörung über und die besondere Aufmerksamkeit für die hiesigen Grünen? (Natürlich gibt es auch bei den Grünen, wie bei den anderen Parteien, sehr nette und aufrichtige Menschen.)

Es geht hier auch in Wahlkampfzeiten nicht um eine vordergründige Partei- oder Gegenparteinahme. Als Bürgerbewegung messen wir alle Parteien an dem Maßstab (es gibt sicher auch andere), wie sie zu dem Projekt stehen, welche Verantwortung sie für S21 und den Weiterbau in Zeiten der Klimakatastrophe tragen. Bei CDU, SPD, FDP & Co ist der Fall klar: sie sind die alten Betonköppe, die uns das eingebrockt haben, die mit ihrem Wachstumsfetischismus irgendwo im letzten Jahrhundert hängen geblieben sind. Ebenso klare Verhältnisse haben wir auf der anderen Seite: SÖS und LINKE sind gleichermaßen Teil dieser Bürgerbewegung. Mit Hannes und Tom an der Spitze gibt es eine wunderbar funktionierende Verzahnung mit der parlamentarischen Opposition im Rathaus.

So etwas würde man sich auch im Landtag wünschen. Aber seit die Grünen – entscheidend mit unseren Stimmen – an die Macht gekommen sind, gibt es weder in der Regierung noch in der Opposition Anlaufstellen oder Unterstützung beim Thema S21: Totalausfall! Womit wir wieder bei den Grünen sind.

Sie sindanders als die Dumpfbacken der alten Tunnelparteien, die immer wieder ihre alten Textbausteine abspulen und, wenn‘s im Gemeinderat drauf ankommt, sagen: Die Bahn hat recht, sie sind ja die Experten. Die Grünen haben Ahnung! Da schaue man sich nur die vielen Bundestagsanfragen von Matthias Gastel an. Sie wissen was sie tun, was die Sache ja noch schlimmer macht.

Hinzu kommt: Die Grünen sind aufgrund ihrer Entstehung und Identität auch Expert*innen in Sachen Klima und Umwelt. Sie wissen was die Verfehlung der Pariser Klimaziele bedeutet, auch was auf diese Stadt zu kommt, und sie wissen und werden dem nicht widersprechen können, das Stuttgart 21 frontal allen Klimazielen entgegenläuft.

  • Sie wissen, dass S21 durch gigantische Betonverbräuche und massive Verlagerung von Verkehr auf die Straße die globale Co2-Belastung je nach Szenario um zwischen 3,5 und 5,6 Millionen Tonnen bis 2050 erhöhen wird.
  • Sie wissen, dass die zu erwartenden Verkehrsverlagerungen zu einer Stickoxyd-Mehrbelastung zwischen 600 und 1700 t bis 2050 und zu einer Erhöhung der Feinstaubemissionen zwischen 560 und 750 t bis 2050 führen wird.
  • Sie wissen, dass durch verengte Wasserabflüsse und den Staudammeffekt des Bahnhofstrogs das Überschwemmungsrisiko in der ohnehin hochwassergefährdeten Stadt massiv erhöht wird.
  • Sie wissen, wie klimabelastend die weitere Bodenversiegelung ist, die mit S21 auf den Fildern und im Rosensteinareal geplant ist.
  • Sie wissen, wie stadtklimatologisch wichtig die Flächen des Gleisvorfelds für die Belüftung und nächtliche Abkühlung der Stadt sind.
    Dazu, geradezu zynisch, unser Grüner Baubürgermeister Pätzold in der StZ auf die Frage „Wird der neue Bahnhof auch klimaneutral sein?“:
    „Nein, das wird kein Energie-Plus-Bahnhof. Energie einzusparen, ist nicht das zentrale Thema dieses Bahnhofs“. Da würde ich sagen: fahren wir doch wieder Diesel & SUVs, deren zentrales Thema war ja auch nicht, Energie zu sparen.
  • Auch nicht entgangen sein wird den Grünen, dass zur Abdichtung gegen Wassereindringen, v.a. in den Anhydrit, 3,8 Millionen Liter Chemikalien (Acrylatgele und Polyurethane) in den Boden gepresst werden, das sind 19 000 Badewannen. Und da ist das, was uns in Zukunft noch bevor steht, z.B. im abgesoffenen Tunnel nach Obertürkheim, noch nicht eingerechnet.
  • Und natürlich muss man Grünen nicht erklären, was die fortgesetzte massenhafte Rodung alter Baumbestände im Schlossgarten, im Rosenstein oder an der Rohrer Kurve für das bedrohte Klima bedeutet.

Und da sie bei alledem nicht widersprechen können, fehlt es auch nicht an rhetorischer Kritik, die ohne Weiteres auch auf dieser Bühne und in dieses Mikrophon gesagt werden könnte:

  • Kretschmann sagt, bei S21 sei alles eingetreten, was die Gegner befürchtet hatten.
  • Winfried Hermann erklärt S21 zur größten Fehlentscheidung der Eisenbahngeschichte.

Da müsste doch als nächstes kommen: „Wie können wir aus diesem verkehrs- und klimapolitische Irrweg aussteigen oder abbiegen?“. Stattdessen folgt das Mantra: für einen Ausstieg oder Umstieg sei es zu spät, das wäre vor drei Jahren noch gegangen. Da hatten sie das aber auch schon so gesagt. Das wirkt wie eine zentral vorgegebene Sprachregelung, an die sich alle Gliederungen und Ebenen der Partei peinlich halten, einschließlich leider des BUND, dessen Positionen zu S21 bisweilen wie mit der Staatskanzlei oder Winnie Hermann abgestimmt wirken.

Kürzlich schien es eine kleine Ausnahme, ein kleines Aufmucken zu geben: Die Kreismitgliederversammlung der Stuttgarter Grünen wollte, wie aus einem längeren Tiefschlaf erwacht, „rechtzeitig die Frage diskutieren, ob der neue Bahnhof den künftigen verkehrlichen Anforderungen gerecht werden kann“. Angesichts der drohenden Abkoppelung der Panoramastrecke sollte wohl vorsichtig mal das Kombi-Fähnchen aus dem Fenster gehängt werden. Kombi bedeutet ja einen teilweisen Verzicht auf die Bebauung des Gleisvorfelds. Aber auch das war den Neo-Prolern Kuhn und Pätzold schon zu viel. Kurz reingegrätscht und das Rebelliönchen war abgeblasen. Aus der Beschlussvorlage „Wir lehnen eine Unterbrechung der Gäubahn ab“ wurde dann: „Wir wollen ergebnisoffene Prüfungen aller Alternativen zur Unterbrechung der Gäubahn.“

Wer oberfromm daher kommt, in der Wirklichkeit aber gegen seine eigenen Grundsätze verstößt, den bezeichnet man als bigott. Dass passt auf eine Partei, die sich als Bannerträgerin von Klima- und Umweltschutz versteht – und dann derart gegen ihre Ziele verstößt.

Ein anschauliches Beispiel lieferte Kuhn vor kurzem auf der Fridays-for-Future-Demo, zu der er sich ein bisschen selbst eingeladen hatte. Er ,…

  • der sich lange gegen den Radentscheid und dessen Umsetzung gesperrt hatte,
  • der sich an der Seite des Grünen Regierungspräsidenten Reimer lieber gegen Fahrverbote als für den Schutz von Umwelt und Menschen einsetzt
  • er, der Klimaskandal21 so schnell wie möglich umsetzen will,

stilisiert sich vor den jungen Schüler*innen mit ein paar umweltpolitischen Schlagworten und applausträchtigen Triggerbegriffen als der große Umweltheld.


Was sind die Erklärungen der Grünen für den flagranten Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit, wie managen sie ihn in der politischen Diskussion?

Mit zwei ihrer Erklärungen kann man sich kurz fassen:

Auf eine mit Lug und Betrug betriebene Volksabstimmung mag sich selbst Kretschmann nicht mehr so recht berufen. Das in dieser Spur verlaufene Brexit-Plebiszit und die Trumpwahl zwingen da zur Zurückhaltung.

Und auch der Turn des hiesigen BUND-Geschäftsführers (ausgesprochen: Bund für Umwelt- und Naturschutz), der flugs den Weiterbau von S21 als den „aus Umweltgründen sinnvolleren Weg“ umdefinieren wollte, blieb glücklicherweise eine Ausnahme.

Ein weiterer Versuch,  Anspruch und Wirklichkeit miteinander zu versöhnen, ist die Erzählung von den „Verbesserungen von S21“. Hier geht es um Ideen, wie den Ausbau der Rohrer Kurve, das Dritte Gleis am Flughafen, die S21-Doppelkurve nach Flughafen-Tübingen oder – ziemlich gaga – die Tieferlegung des Kopfbahnhofs, wobei dann das Gleisvorfeld zwischen den Untergeschossen der Gleisvorfeldbebauung durchgeführt würde.

All diesen „Verbesserungen“ ist zweierlei in unterschiedlicher Ausprägung gemein:

  1. Die Bahn erklärt: machen wir gern, aber außerhalb der S21-Finanzierung – und Winnie Hermann macht mit, Querfinanzierung aus anderen öffentlichen Töpfen, Verschleierung der wahren Projektkosten!
  2. Die sog. Verbesserungen laufen auf ein Kontinuum von Reparaturen, Mängelbeseitigungen und Anbaumaßnahmen hinaus. Tunnelbauer und Betonindustrie jubilieren, die Klimabilanz von S21 verschlechtert sich weiter.

Wenn man Grüne auf Podien oder in kleiner Runde fragt, wieso sie dermaßen gegen ihren Markenkern verstoßen, kommt regelmäßig die Antwort: Wir können nicht anders – der Koalitionspartner, die Vertragslage, die politischen Beschlusslagen. Die Hälfte davon sind Vorwände. Eine Vertragsbindung gibt es längst nicht mehr. Das bestätigt erneut das juristische Gutachten für das Aktionsbündnis, das Eisenhart hier angekündigt hat und das wir in den nächsten Tagen veröffentlichen wollen. Die Grünen inszenieren sich als umstellt von Sachzwängen. Sie würden ja gern anders, aber könnten nicht.

Doch, sie könnten anders, wenn sie wollten! Wackersdorf, Kalkar, Atomausstieg, Kohleaustieg – nie waren die Rahmenbedingungen und politischen Mehrheiten schon da, sondern immer wurden sie erst erkämpft. Durch öffentlichen und politischen Druck, durch Bürgerbewegungen. Wer sich nur als Sachwalter bestehender Machtverhältnisse sieht, besonders wenn er deren profitlicher Teil ist, ändert nichts!

Winfried Hermann kann nicht verstehen, dass Bürger ihren Unmut über S-Bahn-Streckensperrungen z.B. bei ihm abladen. Er habe S21 doch nicht erfunden. Stimmt, aber Du sicherst seinen Weiterbau ab, Du bist der zuständige Verkehrsminister, Du stehst in der Verantwortung für S21 – und bist damit genau der richtige Adressat für die Kritik!

Fordern wir deswegen den Rücktritt des Verkehrsministers? Nein, da wären erst mal ganz andere dran. Aber wir können ihm raten, mal ins Kino zu gehen und sich den Film „Wackersdorf“ anzuschauen. Da gab‘s den mutigen Landrat Schuierer, dem war die Umwelt wichtiger als sein Amt. Das hat er aufs Spiel gesetzt und im Schulterschluss mit der Bürgerbewegung gegen die Wiederaufbereitungsanlage gekämpft und das schon weit gediehene Projekt gestoppt – und hat dabei am Ende nicht mal sein Amt verloren, eben weil er es aufs Spiel gesetzt hatte. Gerade von den Grünen fordern wir mit Greta Thunberg: die Lage ist ernst, Schluss mit dem kleinen Karo, I want you to panic! Ihr sollt in Panik geraten! Daraus muss Vieles folgen. Mit Sicherheit: Kein Stuttgart 21, sondern OBEN BLEIBEN!