Liebe Freundinnen und Freunde,

„In Kobane werden die Menschen massakriert, durch den Klimawandel verlieren tägliche Tausende ihre Bleibe, oft ihr Leben – und ihr kämpft um einen Bahnhof!“ – solche und ähnliche Vorhaltungen, sehr beliebt auch der Vergleich der Verletzten des Schlossgartens mit den täglich Gräueltaten des IS – bekommen z.B. die UnterschriftensammlerInnen für die BBs umso öfter zu hören, je dramatischer die Weltlage wird.

Längst durchschaut ist natürlich, dass einige, die weder das eine noch das andere tun, hier eine schlaue Ausrede gefunden haben. Und das noch von einer höheren moralische Warte aus! Aber auch wenn diese unhehren Motive der Kritik leicht durchschaut sind – so einfach lässt sich das Argument nicht wegwischen. Der Kontrast zwischen Fragen der Gleisneigung und den immer näher rückenden Einschlägen der globalen Konflikte nagt auch in dieser Bürgerbewegung. Sehr gut spürbar hat das eine junge Frau auf der Bühne des letzten Mahnwachenfests mit ihrer Frage ausgedrückt, ob man nicht mal einen Massen-Flyer einsparen und das Geld für die Hungernden und Leidenden dieser Welt verwenden könnte.

Recht hätte sie, wenn es bei Stuttgart 21 „nur“ um einen Bahnhof ginge. Wäre das so, wäre diese Bürgerbewegung vermutlich längst grollend nach Hause gegangen. Aber jeder Tag der Auseinandersetzung um dieses Projekt gewährt tieferen Einblick in das politische Machgefüge, in die wirtschaftlichen Interessen und in die medialen Manipulationen, die es erst ermöglichen, dass ein derart absurdes Projekt aufgelegt und bis heute nicht beendet wurde.

Die Aufarbeitung des Schwarzen Donnerstags (regelmäßig dokumentiert in www.kontextwochenzeitung.de) und der starke juristische Druck, den die JuristInnen dieser Bewegung ausüben, hat ein Wurzelwerk politischer Justiz freigelegt, das weit über das Bahnhofsthema an die Substanz des Rechtsstaats geht, oft allein durch dessen schlichte Verweigerung, den vielen Grundsatzfragen und Rechtsbrüchen beim Durchdrücken dieses Projekt überhaupt nachzugehen. Jörg Lang hierzu in einer der großen Montagsdemoreden zum Jahrestag des 30.9.: www.bei-abriss-aufstand.de/2014/09/30/rede-von-joerg-lang-bei-der-240-montagdemo/#more-53333.

Auch die Willfährigkeit, mit der sich die herrschende Politik vor den Karren ökonomischer Interessen spannen lässt, ist eine Erfahrung die sich in den großen Konflikten weltweit, wie auch bei S21 machen lässt. Ein Kanzleramtsminister rettet mit massiver Einflussnahme auf die DB S21 und damit allen S21-Profiteuren ihre Pfründe. Und wenn staatliche Regelwerke dem entgegenstehen, räumt man sie per Ausnahmegenehmigung aus dem Weg oder – wenn es ein Gesetz ist – einfach indem man es ändert . So praktiziert beim Versuch der Bundesregierung mit einer Lex S21 die Schutzregeln gegen die Demontage der Bahninfrastruktur zu durchlöchern, um den Weg für S21 frei zu machen (Thomas Wüpper in: www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-21-lex-s-21-soll-projekt-helfen.faea9e65-6659-49e6-bd56-8432f9a1b4f5.html). Wer nicht ganz verstanden hat, warum der DB AG Herr Pofalla als Lobbyist so viel wert war, wird hier eine Erklärung finden.

Auch für das was mit gelenkter oder Merkels marktkonformer Demokratie gemeint ist, liefert Stuttgart 21 das praktische Exempel. Die Parallelität von falschen Versprechungen, Verschleierungen, Aufklärungsverhinderung und Vernebelungen bei Stuttgart 21 und den TTIP- Verhandlungen hat Manfred Nies auf der letzten Montagsdemo schön vor Augen geführt: http://www.bei-abriss-aufstand.de/2014/10/10/rede-von-manfred-niess-bei-der-241-montagsdemo/#more-53500.

Gerade die Ausspielerei von globalem Klimaschutz und dem Engagement gegen S21 ist abwegig. Wer sich gegen S21 wehrt, wehrt sich auch gegen ein extrem klimaschädigendes Vorhaben, das in der Bauphase mit Millionen zusätzlicher  LKW- Kilometer, bei Fertigstellung mit viel höherem Energieverbrauch und vor allem einer massiven Verkehrsverlagerung auf den umweltbelastende Autoverkehr verbunden ist.

Wer sich gegen S21 wehrt, vernachlässigt nicht das eine für das andere, sondern verfolgt das eine durch das andere, ganz im Sinne der Devise: Global denken, lokal handeln!

Nach der Filderanhörung

Es ist das erwartete große Showdown geworden zwischen Goliath und David zu zwei Schlüsselthemen: der Trassenführung incl. Bahnhof auf den Fildern und zur Frage der Leistungsfähigkeit von S21 überhaupt.

  • Es ist gelungen, die Bahn unter den Augen der Öffentlichkeit zu stellen. Über viele Phasen hinweg geriet sie fachlich in die Defensive.
  • Erstmals und dann gleich spektakulär gab es Opposition aus dem Befürworterlager. Die Antragstrasse, die die DB – auch wenn nur aus taktischen Gründen – durchzusetzen versucht, ist so desaströs, dass OB-Klenk aus Leinfelden-Echterdingen mit einem Gutachten (TU Dresden) dagegenhielt, das es in sich hatte.
  • neu auch: Klenk wird in den Leitmedien als OB gelobt, der für seine BürgerInnen hinsteht, im Gegensatz zu Kretschmann und Kuhn, die nicht einmal mehr kritisch begleiten.
  • Die Antragstrasse dürfte tot sein. Sie diente vermutlich nur dazu, Druck zu machen, um den Kostendeckel für Plan B zu lupfen. Damit steht für die S21-Auseinandesrsetzung erneut die Kostenfrage und der Kostenbetrug auf der Tagesordnung. Die ersten wackeln schon …
  • Es wird eine weitere Auslegung und möglicherweise Anhörung erforderlich werden mit Zeitverlusten und weiteren Kostenrisiken für das Projekt – und damit auch neuen Angriffspunkten für die Bürgerbewegung.
  • In der zweiten Runde würde es darum gehen, dass Plan B nur der Teufel ist, mit dem Beelzebub ausgetrieben werden soll. Sprich: fast genauso viele Macken!
  • In der Leistungs- und damit Sinnfrage des Projekts ist die Bahn teils ausgewichen, teils mit wehenden Fahnen untergegangen. Die Versammlungsleitung, die die ganze Zeit eine Verlängerung angeboten hatte, wenn noch Fragen offen wären, hat in der Nacht von Montag auf Dienstag erkennbar auf äußeren Druck (Regierungspräsident oder/und DB) die Anhörung mitten in der Beratung, als die DB immer mehr ins Schwimmen geriet, abgebrochen.
  • Dies und die verweigerten Ton- und Bildübertragungen, für die sich selbst Heiner Geissler in einem öffentlichkeitswirksamen Apell eingesetzt hatte, haben das Bild von der betrügenden Bahn, die die Wahrheit unterdrückt, verstärkt.
  • Die Debatte um Leistungsfähigkeit ist, wie die über 200 Thesen/Forderungen von Christoph Engelhardt zeigen, komplex. Die Nachweise sind nur im konkreten Detail führbar. Dennoch wird es stärker darauf ankommen, die Bahn und die Befürworterseite mit nachvollziehbaren Bündelungen und „Übersetzungen“ weiter in die Defensive zu bringen. Nur wenn diese Debatte über ihre Fachlichkeit hinaus plausibel gemacht werden kann, wird es gelingen, z.B. Gewerkschaften und IHK, die ein vitales Interesse an einem leistungsfähigen Bahnknoten haben, wieder auf die Bühne zu holen.
  • Die Bürgerbewegung hat sich sehr einig gezeigt. Viel Vorbereitungsauswand hat erreicht, dass die Balance zwischen emotionalen Protesten und sachlicher Abarbeitung gefunden wurde.

Projektsprecher Wolfgang Dietrich flieht aus dem Amt

„Mission accomplished“ – mit dieser Botschaft wollte Wolfgang Dietrich nach vier Jahren aus seinem Amt als Projektsprecher zurücktreten: www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-21-sprecher-dietrich-s-21-traegt-noch-heute-ballast-des-30-september.249a1b24-8280-4a66-a68f-6107597c0e60.html. Eine letzte große Realitätsverweigerung an der Grenze des Lächerlichen! Treffend schreibt die Süddeutsche:

„Nun aber könne er getrost Abschied nehmen. Stuttgart 21 sei auf einem guten Weg, der Widerstand nicht mehr größer als bei vergleichbaren Infrastrukturprojekten. Das war natürlich gelogen. Hätte Wolfgang Dietrich recht, dann läge ganz Deutschland im Krieg mit sich selbst.“ www.sueddeutsche.de/politik/stuttgart-gespenst-aus-dem-schlossgarten-1.2168458

Es folgt eine gute Beschreibung der S21-Malaise.

Dietrich beklagt sich, wie schlecht er und seine Leute behandelt worden seien. Da scheint bei ihm noch einiges offen zu sein „Er freue sich schon auf die Zeit nach dem Sprecherjob“, schreibt die SZ, „da könne er die eine oder andere Rechnung begleichen mit Projektgegnern und Journalisten“. Klingt eher nach Revanche als nach Altersweisheit.

s.a. Kommentar Matthias v Hermann: www.bei-abriss-aufstand.de/page/2/

Viel Applaus für Ostertag

Einer unserer Vordenker hat eine große Rede auf der letzten Montagsdemo gehalten: Prof. Roland Ostertag, u.a Präsident der Bundesarchitektenkammer in den neunziger Jahren, Autor vieler Publikationen, Mitglied im Aktionsbündnis und ständiger Mahner, den Stuttgart 21 -Konflikt nicht nur im Blick auf Zahlen und Quantitäten zu verstehen, sondern im Blick auf die Seele einer Stadt:www.bei-abriss-aufstand.de/2014/10/10/rede-von-prof-ostertag-bei-der-241-montagsdemo/#more-53497. Wenn nicht schon alle gestanden hätten, hätte man den anschließenden Applaus standing ovations genannt.

Großprojekte andernorts

Gerade weil sie Anhänger einer ökologischen Mobilität und einer zukunftsorientierten Bahnpolitik sind, protestieren so viele Menschen so nachhaltig gegen Stuttgart 21. Das ist bei anderen großen Bahnhofs- oder Bahninfrastrukturprojekten anders. Wohl keines wird ohne Widerspruch und Protest bleiben. Aber selten geht es um die generelle Infragestellung wie bei S21, weil andernorts die Projekte im Prinzip sinnvoll sind. Was hier ein Synonym für Einknicken ist, ist andernorts die richtige Strategie: kritisch begleiten.

Die Beispiele reichen vom Gotthard-Basis-Tunnel, über die Umgestaltung von Besancon bis hin zum jetzt eröffneten neuen Wiener Hauptbahnhof  www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Hauptbahnhof_eroeffnet_4074787.html, über die Bahnhofsplanungen in Finnlands zweitgrößter Stadt Tampere, wo Stadtteile durch Bahnhofsüberdachungen zusammengeführt werden sollen www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-COBE_gewinnen_Wettbewerb_in_Finnland_4069605.html, bis nach Hamburg Altona, wo ein wenig funktionaler Kopfbahnhof zugunsten einer durchgehenden Nord-Süd-Streckenverbindung oberirdisch aufgegeben werden soll und neben dem unvermeidlichen ECE-Malls immerhin erheblicher Raum für sozialen Wohnungsbau entstehen soll: http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/bahnhof-altona-verlegung-nach-diebsteich-kosten-zeitplan-a-978715.html

Apropos Malls

Fachleute warnen seit langem vor gigantischen Überkapazitäten und der Zerstörung der Innenstädte durch Konsumidiotie und Malls: http://m.faz.net/aktuell/gesellschaft/stuttgart-immer-neue-malls-immer-weniger-leben-13199245.html. Stuttgart – ein Lehrstück der Lernunfähigkeit. Zeit schon jetzt, die Verantwortlichen bei CDU, FDP, FW und natürlich wieder der SPD zur Rechenschaft zu ziehen! Vielleicht kann das zu mehr Verantwortungsbewusstsein in Sachen S21 führen, wo dieselben Pappenheimer gerade den nächsten Unsinn durchdrücken …

& viele Grüße von Werner