Auf Antrag der Fraktionen von Grünen und Linken tagte am 6. Mai in Berlin der Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages. Zur öffentlichen Anhörung unter dem Titel „Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären“ hatten die Koalitionsfraktionen fünf Sachverständige aufgeboten, unter ihnen vier Top-Manager der Deutschen Bahn sowie der Direktor des Instituts für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Professor Ullrich Martin, Autor höchst fragwürdiger Studien zur Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs im Auftrag der Deutschen Bahn. Die Grünen hatten Matthias Lieb vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) als Experten benannt, die Linken den Stern-Journalisten Arno Luik.
Ein Fazit dieser ungleich gewichteten Anhörung zogen vor der Presse Matthias Gastel, bahnpolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion, und Sabine Leidig, verkehrspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. Beide kritisierten die mangelhafte Transparenz dieser Anhörung: Zum einen habe die Unionsfraktion im Verkehrsausschuss ihr Veto eingelegt gegen den Antrag, die Veranstaltung öffentlich zu übertragen. Zum anderen seien die Bahnvertreter dort ihre Unterlagen schuldig geblieben, hätten zur Anhörung – im Gegensatz zu den Sachverständigen von Grünen und Linken – keine einzige Zeile dafür zu Papier gebracht und somit demokratische Spielregeln grob missachtet.
Wegen der politischen Unwucht im Verkehrsausschuss lud das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 am Nachmittag in die NABU-Bundesgeschäftsstelle, Berlin, zu einer „Außerparlamentarischen Anhörung“, die der ehemalige Bundestagsabgeordnete Peter Conradi (SPD) leitete.
Der in Stuttgart lebende Schauspieler Walter Sittler, der gerade in Schweden dreht, warb in der Bundeshauptstadt um Verständnis für den anhaltenden Widerstand gegen das Projekt in Baden-Württembergs Landeshauptstadt: Er sei nach wie vor notwendig, denn etwas Falsches könne von einem noch so wichtigen Organ nicht ins Richtige gedreht werden.
Mit nur halb so vielen Gleisen wie der bisherige Kopfbahnhof verfehle der geplante Tiefbahnhof nicht nur das zur Rechtfertigung des Projekts behauptete Wachstum, sondern er decke nicht einmal den aktuellen Bedarf. So Christoph Engelhardt, der als Analyst seit Jahren sehr akribisch vor allem die Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 untersucht. Somit würden Milliarden Euro ausgegeben für einen „illegalen Rückbau der Kapazität“. Zudem könne die Bahn offensichtlich den Vorwurf unterdimensionierter und daher gefährlicher Fußgängeranlagen nicht entkräften. Wie beim geplanten Berliner Flughafen BER sei auch bei S21 der Brandschutz nach wie vor nicht gewährleistet – trotz der kürzlich vom Eisenbahnbundesamt dafür ausgesprochenen Teilgenehmigung.
Die sechsfach überhöhte Gleisneigung im geplanten Tiefbahnhof – 15,1 Promille statt der nach Eisenbahn-Bau-Betriebsordnung (EBO) maximal erlaubten 2,5 Promille – gefährde „die Sicherheit beim Fahrgastwechsel“, erklärte der ehemalige Bundesbahndirektor Sven Andersen – ein „entscheidender betrieblicher Mangel“, der im Planfeststellungsverfahren überhaupt nicht behandelt worden sei. Um dies entgegen fachlichem Rat durchzusetzen, seien „im Bundesverkehrsministerium die Entscheidungsstränge gezogen“ worden.
Der mangelhafte Brandschutz und die überhöhte Gleisneigung verstießen gegen „zentrale Grundwerte der Menschen auf Schutz von Leib und Leben“, betonte Rechtsanwalt Eisenhart von Loeper, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21. Verletzt werde auch das Gebot des Grundgesetz-Artikels 87e Absatz 4 zum „Erhalt und Ausbau des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes“ – zum einen weil die Leistung des Stuttgarter Bahnhofs verschlechtert werde, zum anderen weil wegen der übermäßigen Kosten dieses einen Projekts weniger Geld in die Bahninfrastruktur anderer Länder fließe. Es sei auch nicht hinnehmbar, dass ein reiches Land wie Baden-Württemberg auf Kosten ärmerer Länder ein – noch dazu untaugliches – Milliarden-Prestigeprojekt mitfinanziere. Die Zulässigkeit einer solchen „Mischfinanzierung“ werde vom Bundesverwaltungsgericht demnächst noch zu prüfen sein.
Bernhard Knierim vom Bündnis „Bahn für Alle“ sieht in Stuttgart 21 „kein schwäbisches Problem, sondern ein bundesweites“, weil dieser „neue Engpass“ sich massiv auswirke „auf den ganzen Bahnverkehr in der Region und letztlich auch im ganzen Land“. Ein „Integraler Taktfahrplan“ mit einfachen und schnellen Umstiegen von Zug zu Zug zur vollen oder halben Stunde werde mit dem geplanten Tiefbahnhof und seinen nur acht Gleisen „für immer verhindert“. Die „nach realistischen Prognosen an die 9 bis 10 Milliarden Euro“ für Stuttgart 21 fehlten zudem „an vielen anderen Stellen im bundesweiten Bahnnetz“.
Aus den beiden Anhörungen vom 6. Mai zieht das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 seine Schlüsse:
- Das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ geht bundesweit alle an. Die Ressourcen, die hier verschleudert werden, fehlen anderswo. Zu unterstützen ist deshalb die von Nordrhein-Westfalens Verkehrsminister Michael Groschek vorgetragene Idee eines nationalen Bahngipfels.
- Kosten und Nutzen des Projekts „Stuttgart 21“ müssen neu bewertet werden – von unabhängigen Instanzen, die dem Allgemeinwohl und nicht der Deutschen Bahn AG verpflichtet sind.
- Legt der Bundesrechnungshof seinen seit zwei Jahren ausstehenden Bericht zu den Kosten von Stuttgart 21 nicht unverzüglich vor, so setzt er seinen guten Ruf als unabhängige Prüfinstanz massiv aufs Spiel.
- Der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG muss seinen unsäglichen Finanzierungsbeschluss vom März 2013 revidieren.
- Bleibt die Anhörung des Verkehrsausschusses folgenlos, so wollen die S21-Gegner die Forderung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Projekt „Stuttgart 21“ wieder auf die Tagesordnung setzen.
Kontakt: Dr. Eisenhart von Loeper, Telefon (0174) 5912495
Hermann Schmid, Telefon (0171) 5531693
Werner Sauerborn, Telefon (0171) 3209801