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Dieter Reicherter: 13 Jahre nach dem Schwarzen Donnerstag:

Wir vergessen nicht!

Am 30.9. jährte sich der Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten von 2010. Bei dem später vom Verwaltungsgericht Stuttgart für rechtswidrig erklärten Vorgehen der Staatsgewalt mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken gegen friedlich Demonstrierende, darunter viele Kinder und Jugendliche, gab es Hunderte von Verletzten. Der Polizeieinsatz diente dazu, die Fällung von zum Teil hunderte Jahre alten Bäumen im Schlossgarten trotz eines vom Eisenbahnbundesamt ausgesprochenen Verbots zu ermöglichen. Die Bäume hatten dem Projekt Stuttgart 21 im Weg gestanden.

Wie in jedem Jahr versammelten sich zum Gedenken an die unfassbare staatliche Gewalt zahlreiche Menschen, darunter viele Betroffene. Die 677. Montags-Demo stand mit Reden von Daniel Kartmann, einem der Schwerverletzten und von Dieter Reicherter, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, ganz im Zeichen des bis heute nicht aufgearbeiteten Geschehens.

Daniel Kartmann ist als Folge des Beschusses durch einen Wasserwerfer bleibend geschädigt und im Sehvermögen stark eingeschränkt. Der Berufsmusiker fasste seine sehr persönlich gehaltenen Gedanken unter dem Titel „Wir vergessen nicht!“ zusammen. Sein Fazit lautete: „Es ist nicht nur so, dass die Bäume dem Projekt Stuttgart 21 zum Opfer gefallen sind. Wir alle wurden zu Opfern.“

Dieter Reicherter richtete mit seiner Rede „13 Jahre Schwarzer Donnerstag: Wir kämpfen weiter gegen die Umweltzerstörung“ den Blick auf den fortdauernden Einsatz der Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 für den Erhalt einer lebenswerten Umwelt sowie für einen guten und zuverlässigen Bahnverkehr. Im Mittelpunkt stand seine Aussage: „Klimawissenschaftler*innen und Sachkundige bestätigen uns ganz klar, dass in Zeiten der Erdüberhitzung die Bebauung des Gleisvorfelds mit dem Stadtviertel Rosenstein ein Frevel ist.“

Direkt am Jahrestag selbst veranstaltete die Gruppe der Seniorinnen und Senioren eine vielbesuchte Kundgebung an der Mahnwache gegenüber dem zerstörten Hauptbahnhof. Dabei wurde des vor kurzem verstorbenen Dietrich Wagner in Anwesenheit seiner Frau Erika gedacht. Er war am 30.9.2010 nahezu blind geschossen und dadurch zum Symbol der Polizeigewalt geworden. Petra Brixel stellte ihre Rede ebenfalls unter das Motto: „Wir vergessen nicht!“ Sie blickte zurück: „Ein Tag, an dem Vertrauen in die Regierung und Polizei, an dem ein Gefühl von Sicherheit verloren ging, weil polizeiliche Willkür herrschte, die später als Unrecht juristisch anerkannt wurde.“

Nach einem Gedankenaustausch mit den Versammelten erklärte sie abschließend: „Wir vergeben nicht, weil die Schuldigen keine Einsicht in ihr Unrecht hatten und sie auch nicht um Entschuldigung oder Vergebung gebeten haben.” Man denke nur an die Rolle des heutigen Innenministers und Stellvertretenden Ministerpräsidenten Thomas Strobl (CDU). Bis heute hat er sich nicht von seiner Pressemitteilung vom 26.9.2010 als damaliger CDU-Generalsekretär distanziert. Nur vier Tage vor dem Polizeieinsatz hatte er Öl ins Feuer gegossen mit der Aussage: „Einen Teil der Demonstranten braucht man nicht kriminalisieren, der ist selber kriminell geworden.“

Angesichts solcher Äußerungen müssen sich die Verantwortlichen nicht wundern, dass auch im 14. Jahr das Motto gilt: Wir vergessen nicht!“

Hier die drei genannten Reden:

Petra Brixel – Rede an der Mahnwache am 30.9.2023

Die Gruppe der Seniorinnen und Senioren gegen Stuttgart 21 hatte sich Gedanken zum heutigen Datum gemacht, zum Gedenktag „Schwarzer Donnerstag vor 13 Jahren“.

Wir haben uns für ein ruhiges – nicht für ein stilles – Gedenken entschieden. Das heißt: Wir stehen zusammen, reden, erinnern uns und tauschen uns aus.

Eigentlich wurde am letzten Montag auf der Bühne alles gesagt, was es zu diesem Unrecht vor 13 Jahren zu sagen gibt. Daniel Kartmann und Dieter Reicherter haben so prägnant gesprochen, dass dem nichts hinzuzufügen ist. Diesen beiden danken wir von Herzen.

Dabei wurde auch dem kürzlich verstorbenen Dietrich Wagner noch einmal die Ehre erwiesen. Denn darum geht es doch: Wir vergessen nicht! Wir vergessen nicht die Menschen, die damals aufgestanden sind.

Wir vergessen nicht den 30. 9., den Tag der Schande für Polizei und Regierung der Stadt Stuttgart und Baden-Württembergs. So viele namentlich bekannte Personen, die sich mit Schande bedeckt haben. Ich werde nicht ihre Namen nennen, das wäre der Ehre zu viel. Ihre Namen sind bekannt, aber unsere Pfiffe für sie wären nicht genug der Verachtung. Und Verachtung ist es, was wir ihnen gegenüber ausdrücken. Das hat nun nichts mit Vergebung zu tun, denn viele von uns sagen: Wir vergessen nicht, und wir vergeben nicht. Wie kann man verlorenes Augenlicht und zerstörte Lebensperspektive je vergeben?

Es ist nötig, sich immer wieder – und wenn es auch nur einmal im Jahr ist – sich dieses Tages im Schlossgarten zu erinnern. Ein Tag, an dem Vertrauen in die Regierung und Polizei, an dem ein Gefühl von Sicherheit verloren ging, weil polizeiliche Willkür herrschte, die später als Unrecht juristisch anerkannt wurde.

Wir alle wissen, was dem 30.9. gefolgt ist. Dass wir immer noch jeden Montag auf dem Schlossplatz stehen, hängt auch damit zusammen. Skepsis und Wachsamkeit nahmen bei vielen von uns am 30.9. ihren Anfang. Gut so. Nicht schlafen.

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen! Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! (Günter Eich)

„Wir vergessen nicht“, steht auf unseren Plakaten. Das ist eine Mahnung an die Ordner der Welt – aber auch an uns.

Und – nun komme ich zu der anderen Seite des Appells: Wir sollen das Unrecht nicht vergessen, aber wir sollen auch das Schöne nicht vergessen! Ich sage:

Vergessen wir nicht die tollen Feste im Park. Was haben wir für Feste gefeiert, immer im Glauben, den Park mit unserer Hoffnung und unserm Widerstand erhalten zu können.

Was hatten wir für Musiker im Park! Hannes Wader und Konstantin Wecker. Und Daniel Sissenich. Und Timo Brunke. Und, und …

Was hatten wir für tolle Diskussionen im Park, und es gab selbstgemachte Marmelade. Es gab die Parkwache, es gab Kunstausstellungen in einem Container, es gab Kunst an und in den Bäumen, Bruno hat Baumführungen gemacht, dazu kamen Picknicks, Geburtstagsfeiern, sogar Hochzeiten, Andachten und immer wieder Kundgebungen mit Tausenden und Abertausenden.

Wir haben den Südflügel geschützt. Hatten dort ein Café und Architektur-Vorträge. Nächte haben wir am Südflügel verbracht, – und es hat Spaß gemacht.

Und dann die legendären Blockaden am GWM-Tor. Frühstück am Bautor, auch dort wurden Geburtstage gefeiert.

Wir wollen nie das vergessen, was der Park uns gegeben hat: viele auch unbeschwerte und fröhliche Stunden und vor allem ein wachsendes Bewusstsein, ein Gefühl von Solidarität und eine innere Reifung.

Wir vergessen nicht das Unrecht, aber wir vergessen auch nicht das Glücksgefühl, wenn wir Punkte für uns verbuchen konnten, wenn wir erkannten, dass wir Sand im Getriebe von Macht und Gier waren. DAS dürfen wir nie vergessen, dass ohne uns dieses Projekt mit Ignoranz, Arroganz und Menschen- und Naturverachtung durchgezogen worden wäre, dass uns Hören und Sehen vergangen wäre.

Wir werden nie vergessen, dass wir stark waren und es immer noch sind.

Deshalb bleiben wir oben.

Daniel Kartmann Rede auf der 677. Montagsdemo am 25.9.2023

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich freue mich, dass ich heute hier sein kann und bin dankbar, dass ich gefragt wurde, vor und für euch zu sprechen.

Am nächsten Samstag, dem 30.9. jährt sich – wie ihr alle wisst – der schreckliche Polizeieinsatz im Schlossgarten zum 13. Mal. Wir gedenken heute dieses Tages, der als sogenannter „Schwarzer Donnerstag“ in die Geschichte Stuttgarts und in unser kollektives Gedächtnis geschrieben wurde. Dieser Tag bedeutet bis heute einen Einschnitt in unser aller Leben. Es gibt ein Davor und ein Danach. Für niemand anderen war der Einschnitt jedoch so gravierend, wie für Dietrich Wagner. Die Bilder seiner schlimmen Verletzungen gingen um die Welt. Leider ist Dietrich dieses Jahr am 28.Juni verstorben. Es ist heute die erste Demo zum Jahrestag, die ohne ihn in unserer Mitte stattfindet. Neben dem Schmerz, einen vertrauten Menschen zu verlieren, bedeutet sein Fehlen natürlich auch ein Verlust als Zeuge dieses Unrechts, das an diesem Tag geschah. Ich habe ihn oft erzählen gehört, ob bei Presseterminen, im Gerichtssaal, auch in einigen privaten Begegnungen im persönlichen Gespräch. Es war erschütternd und ermutigend zugleich.

Erschütternd, da ich meine eigene Verletzung, die um einiges weniger schwerwiegend war als seine, kaum darstellen und begreifen konnte und mir nicht ausdenken konnte, wie man das aushalten kann, was Dietrich Wagner erleiden musste. Nie werde ich vergessen, wie ich am Morgen des 1. Oktober 2010, nach einer albtraumhaften Nacht in der Charlottenklinik, die Zeitung mit seinem Bild – blutüberströmt, gestützt von zwei Männern und mit heraushängenden, zerfetzten Augen – in die Hände bekam. Mein eigenes rechtes Auge war tags zuvor im Park ebenfalls direkt vom Wasserwerfer getroffen worden, so dass ich nur mit meinem linken schemenhaft dieses Bild des Grauens erkennen konnte. Und in diesem Moment wurde mir klar: ich bin mit diesem Mann verbunden, ich bin auch Opfer.

Es fiel mir unglaublich schwer weiterzumachen, in meiner Rolle als Opfer. Ich habe fast die ganzen dreizehn Jahre gebraucht, um zu überwinden, zu verarbeiten und heilen zu lassen. Bei Dietrich Wagners Trauerfeier auf dem Waldfriedhof habe ich mich gefragt, warum eigentlich niemand von der Stadt oder gar von der Landesregierung abgesandt wurde, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Mal abgesehen davon, dass es möglicherweise als pietätslos hätte empfunden werden können, hätte ich persönlich eine zumindest kleine Geste der Anteilnahme von offizieller Seite angemessen gefunden, die auch mir gutgetan hätte.

Es folgte jedoch eine ganz andere Geste: während der Beisetzung am Grab, die Blaskappelle blies gerade den Trauermarsch, erdreistete sich doch tatsächlich ein Polizeimannschaftswagen, direkt hinter dem Friedhofszaun gut sichtbar, seine drei, vier Runden über den Parkplatz zu drehen – der Teufel (oder vielleicht der Kretschmann) weiß, wer den geschickt hatte. Auf mich wirkte das wie: „Seht her, wir sind die Macht und ihr seid die Opfer“.

Da rissen die alten Wunden in mir fast wieder auf und die Wut kam wieder hoch. Zum Glück war ich eben nicht allein, in der Runde derer, die auch heute hier sind. Ich wollte nicht wieder dieses Gefühl der Ohnmacht haben, das ich verspürte, als ich eingekesselt, vom Wasserwerfer direkt ins Auge getroffen wurde. Ich musste aus dieser Rolle heraustreten. Es gelang – weil niemand in dieser Situation dem Treiben dieses komischen Aufmarsches irgendeine Bedeutung gab. Es war wie eine innere Rebellion, eine Kraft in mir, die ich bis heute verspüre. Es ist die Kraft, sich zu widersetzen. Aus innerer Überzeugung: „Nein“ zu sagen. Es ist unser, in unserem Grundgesetz verbürgtes Recht, seinem Gewissen verpflichtet zu sein, seine Meinung zu vertreten und dafür einzustehen, ja auch dafür zu kämpfen. Dieser Ausspruch von Martin Luther: „Hier stehe ich und kann nicht anders“ hat mich als Sohn eines evangelischen Pfarrers schon als Kind beeindruckt. Er war für mich lange ein Vorbild. Es ist immer etwas heikel, sich durch Vorbilder leiten zu lassen.

Ein anderes Zitat von Luther hat mich fast noch mehr geprägt: „Selbst wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch einen Baum pflanzen.“

Margot Käßmann hat in ihrer wunderbaren Rede genau hier vor ein paar Wochen diesen Spruch zitiert. Er hat mich im Herzen bewegt und mir den Mut und auch die Inspiration wieder gegeben zur erneuten Umkehr. Heraus aus der Lethargie, der Ohnmacht und der Lähmung. Keine Angst zu haben, vielleicht einen Fehler zu machen. Denn in der Gemeinschaft, im Gespräch, in der Diskussion, im gemeinsamen Protest sind wir in der Lage, unterschiedliche Meinungen auszuhalten. Daran müssen wir uns erinnern.

Die Aufgaben, die auf uns alle warten, um unseren Planeten, unser Land und eben unsere Stadt noch als lebenswerte Orte zu erhalten, sind gewaltig. Wir werden alle unsere Anstrengungen brauchen, um die Zerstörung unseres Lebensraumes zu stoppen. Zumal wir immer noch in einem System leben, das nur existieren kann, weil es zerstört. Diese Zerstörung macht Menschen zu Opfern. Dietrich Wagner und ich, und neben uns viele von euch, die auch heute hier sind, haben das in Stuttgart am 30.9.2010 am eigenen Leib erfahren. Es ist nicht nur so, dass die Bäume dem Projekt Stuttgart 21 zum Opfer gefallen sind. Wir alle wurden zu Opfern.

Die Regierenden, die Deutsche Bahn und all die Profiteure der Machenschaften um S21 haben das ausgenutzt und die Zerstörung bis heute fortgesetzt. Die Vorgänge bei S21 der letzten Jahre sind uns allen bekannt. Täuschung, Manipulation, Betrug und immer wieder auch Gewalt, haben dazu geführt, dass der große Protest aus dem Herbst 2010 irgendwann mehr und mehr eingeknickt ist in meinem direkten Umfeld. Es wurden fragwürdige, sogenannte unumkehrbare Fakten geschaffen. Meine Generation der damals Dreissigjährigen musste sich um die eigene Absicherung, die Existenzsicherung der Familie oder deren Aufbau kümmern. Abschreckung und Angst sowie auch mal ein gutes, altes Machtwort (der Käs isch gessen, ihr wisst schon) taten ihr Übriges, um die Leute mehr und mehr vom Weg zur Montagsdemo abzuhalten.

Wir wurden mehr und mehr Opfer auch der Umstände. Resignation machte sich breit und machte mir, neben der Aufarbeitung meiner Verletzung zusätzlich zu schaffen. Es gab Phasen des Aufbäumens und Phasen das nötigen Rückzugs. Parallel ging dieser Protest, diese kritische Begleitung dieses abstrusen Projektes stets weiter.

Corona stellte die Bewegung und uns alle im Miteinander nochmal auf eine ganz andere Probe. Ein anderes Mittel der Zerstörung machte die Runde: die Spaltung. Diese wurde noch durch diesen unsinnigen Krieg und eine für uns alle nicht zu überblickende Berichterstattung und wechselseitige Propaganda in den Leitmedien sowie den sozialen oder manchmal asozialen Medien befeuert.

Ich denke Dietrich Wagner kann in Vielem, was er tat, für uns Vorbild und Ermutigung sein. Sein Erzählen und Auftreten in den letzten Jahren und sein Engagement gegen Polizeigewalt auf der ganzen Welt hat mich ermutigt. Ermutigt, meine Opferrolle zu verlassen und trotz dessen, was mir widerfahren ist, aufzustehen und wieder aktiv zu werden, mich zu engagieren und weiter zu kämpfen. Aber nicht alleine, sondern in Gemeinschaft. Das ist vielleicht das Wichtigste, was ich euch sagen möchte und ich richte hiermit einen Appell an euch – aber vor allem an mich selbst: Folge deiner inneren Stimme und sage weiter Nein zu Unrecht, Gewalt, Krieg und jedwelcher unsinnigen Zerstörung. Tun wir uns immer wieder zusammen. Sprechen wir mit unseren Nachbarn, auch und gerade mit denen, die anders denken. Bleiben wir offen und geben nicht auf!

Mir wurde die Gabe gegeben, durch Musik Menschen zusammen zu bringen und sie zu bewegen. Das ist, was ich tun kann. Jede und jeder von uns hat eine Gabe, die besonders ist und die wertvoll ist für uns alle. Erinnern wir uns daran, dass wir in unserem Innersten stets das Gute wollen und geben es weiter. Heben wir unseren Blick, damit wir weiter: oben bleiben!

 

Rede von Dieter Reicherter auf der 677. Montagsdemo am 25.9.2023

13 Jahre Schwarzer Donnerstag: Wir kämpfen weiter gegen die Umweltzerstörung!

Liebe Freundinnen und Freunde,

am vergangenen Samstag war ich bei einem Stadtspaziergang in Stuttgart. Wir waren auch im Stadtgarten, der erstaunlicherweise bis auf einen fürchterlichen trockengelegten Betonbrunnen noch als Ort der Erholung erhalten ist. Als wir einem Vortrag zur Jahrhunderte umfassenden Geschichte des Stadtgartens lauschten, prasselten plötzlich Kastanien auf uns. Und schon waren die Bilder des 30. September wieder in mir.

Zuallererst musste ich an Dietrich Wagner denken, dem damals vorgeworfen wurde, den Wasserwerfer mit einem Geschoss angegriffen zu haben. Zum Glück konnten wir nachweisen, dass er mit Kastanien geworfen und nichts beschädigt hatte. In den vergangenen Jahren konnten wir Dietrich und seine Frau Erika bei unserer Demo zum Jahrestag immer persönlich begrüßen. Vor wenigen Monaten durften wir noch mit ihnen Hochzeit feiern. Doch schon wenige Wochen später mussten wir Dietrich Wagner zur letzten Ruhe begleiten. Nach der Trauerfeier hatten wir noch mit Erika besprochen, dass sie heute unser Ehrengast sein sollte. Aber leider musste sie aus gesundheitlichen Gründen absagen.

Umso mehr freue ich mich, dass mein Vorredner Daniel Kartmann – wie Dietrich Wagner einer der Schwerverletzten – sich bereit erklärt hat, unsere Arbeit zu unterstützen und auch öffentlich aufzutreten. Dafür möchte ich ihm und auch seiner Familie ganz herzlich danken.

Zurück zu den Kastanien: Bekanntlich behauptete der damalige Innenminister Rech, der sich im Gegensatz zu Ministerpräsident Mappus um die Planung des Polizeieinsatzes nicht gekümmert hatte, abends im Fernsehen, wir hätten mit Pflastersteinen auf die Polizei geworfen. Tatsächlich waren vor dem Polizeieinsatz Pflastersteine im Schlossgarten gelagert. Dass Menschen aus unserer Bewegung diese Pflastersteine rechtzeitig weggeräumt hatten, ist dem Herrn Minister offenbar entgangen. Damit war ein möglicher Plan der Politik, unsere friedliche Bewegung als gewalttätig abzustempeln, gescheitert.

Und schon bin ich bei einem aktuellen Bericht der Stuttgarter Zeitung. Denn Tim Höhn, immerhin Nachrichtenchef der Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten, hat in einem Artikel geschrieben, der Schwarze Donnerstag, „als der Protest um S 21 eskalierte“, habe sich ins kollektive Gedächtnis der Stadt gebrannt wie die Stuttgarter Krawallnacht und jetzt die Gewaltexzesse von Eritreern. Das liest sich gerade so, als wären wir am 30.9. die Gewalttäter gewesen und nicht die Opfer.

Herr Höhn hat offenbar schlecht oder gar nicht recherchiert. Sonst wäre ihm aufgefallen, dass später der Polizeieinsatz vom Verwaltungsgericht Stuttgart für rechtswidrig erklärt wurde. Auch hätte er unschwer herausgefunden, dass im Schlossgarten die Gewalt von der Polizei ausging – mit massiven Verstößen gegen die Vorschriften zum Einsatz der Wasserwerfer, des Pfeffersprays und der Schlagstöcke. Und offensichtlich ist ihm auch entgangen, dass auf Seiten der friedlichen Bürgerinnen und Bürger Hunderte von Verletzten, darunter auch einige Schwerverletzte, zu beklagen waren. Selbst Oberstaatsanwalt Häußler konnte nichts daran ändern, dass deswegen der damalige Polizeipräsident Stumpf zur Rechenschaft gezogen wurde. Ich hoffe mal, dass Herr Höhn zum Jahrestag des Polizeieinsatzes einen objektiven Bericht schreiben wird. Gern stehe ich ihm zur Verfügung mit Auskünften und brisanten Dokumenten.

13 Jahre sind eine lange Zeit. Aus unseren Erfahrungen haben wir gelernt und uns nicht einschüchtern lassen. Dennoch war ich entsetzt, als mir kürzlich ein Mensch aus unserer Bewegung erzählte, in jener Zeit habe er sich nicht getraut, nach Demos oder Aktionen allein den Heimweg anzutreten. Immer wieder habe er erlebt, dass Protestierende von Polizisten schikaniert worden seien. Dazu passt der geheime Rahmenbefehl zu Stuttgart 21, von dem ich hier schon öfter berichtet habe und der ein Misstrauen und eine Überwachungsmentalität der Verantwortlichen zeigt. Das ist mit Versammlungs- und Meinungsfreiheit in einer lebendigen Demokratie schlichtweg unvereinbar.

Ein Blick zurück im Zorn hilft uns und unserem Kampf aber wenig. Ich will deswegen euren Blick in die Gegenwart lenken. Denn schon vor dem Schwarzen Donnerstag und am Tag der Polizeigewalt ging es nie nur um einen Bahnhof, sondern immer auch um Erhalt von Natur und Umwelt sowie um einen guten und klimaverträglichen Bahnverkehr. Die zum Teil Jahrhunderte alten Bäume im Schlossgarten und später im Rosensteinpark, die dem sinnlosen und teuren Projekt Stuttgart 21 im Wege standen, konnten wir zwar nicht retten. Mit Stolz dürfen wir aber in Anspruch nehmen, die Themen Umweltschutz und auch Artenschutz vorangebracht zu haben. Gerade hier in Stuttgart wäre der Protest von Fridays for Future und anderen, den wir immer unterstützen, ohne diese Erfahrungen nicht denkbar. Denn es geht bei den Protesten nicht darum, abstrakt eine bessere Politik und Bewahrung der Schöpfung zu fordern, sondern man muss immer konkret den Finger in die Wunde legen. Und das bedeutet, dass wir weiter bei Stuttgart 21 auf die Risiken und Gefahren hinweisen. Die explodierenden Kosten, der Finanzierungsprozess beim Verwaltungsgericht, die mangelhafte Leistungsfähigkeit, der nicht funktionierende Brandschutz, die Kappung der Gäubahn und die Märchen zur Einführung von ETCS bieten genügend Stoff. Und jetzt hat die Bahn auch noch bemerkt, dass im Berliner Hauptbahnhof, der noch nicht mal 20 Jahre alt ist, die Bahnsteige zu schmal und überhaupt die Flächen zwischen den Gleisen zu klein sind. Jetzt frage ich mal ganz naiv, ob die Bahnsteige im Kellerbahnhöfle größer sind?

Nun aber zu unserem Kampf, eine lebenswerte Umwelt zu bewahren und sie gegen das unsinnige Immobilien- und Bahnprojekt zu verteidigen. Denn nicht nur das Stadtklima, sondern insbesondere auch die Tier- und Pflanzenwelt sind in Gefahr. Jeder Wissenschaftler und jeder Sachkundige bestätigt uns ganz klar, dass in Zeiten des Klimawandels die Bebauung des Gleisvorfelds mit dem Stadtviertel Rosenstein ein Frevel ist. Man muss es deutlich sagen: Wenn es an rechtsverbindliche Bebauungspläne geht, stehen die Klimaschutzgesetze direkt entgegen. Während zum Beispiel Mannheim im Rahmen der Bundesgartenschau eine große Fläche entsiegelt und begrünt und dadurch eine Senkung der Temperaturen um 3 bis 4 Grad erreicht hat, wird die Stadt Stuttgart mit der Bebauung und Versiegelung genau das Gegenteil bewirken. Nicht genug damit, im windarmen Talkessel wird der Luftaustausch nach internen Dokumenten des Amtes für Umweltschutz ab einer Höhe der Bebauung von 10 Meter bis zum Erdboden total blockiert. Hinzu kommt der Verlust von zahlreichen auf der Roten Liste stehenden Tier- und Pflanzenarten, die sich dort im Laufe von über 100 Jahren angesiedelt haben. Ganz abgesehen davon, dass durch die Folgen der Bebauung die angrenzenden Parkflächen massiv beeinträchtigt würden. Ähnliches gilt übrigens auch bei einer Stilllegung der Panoramastrecke, die die Stadt ebenfalls bebauen will. Wir sagen Nein zu diesen Verbrechen gegen Klima und Umwelt und kämpfen schon deshalb weiter.

Gerade konnten wir auch den Skandal um die Rostrohre öffentlich machen. Viele Jahre wurde durch die blauen Rohre Rostbrühe ins Erdreich, in das Grundwasser und in den Neckar gespült. Wir wiesen auf das Versagen der Kontrollen hin. Die zuständigen Behörden haben offensichtlich weder die Verwendung korrosionsbeständiger Rohre, wie sie der Planfeststellungsbeschluss vorgeschrieben hatte, überwacht, noch Wasserproben entnommen, die leicht bewiesen hätten, dass die versprochene Trinkwasserqualität ein Märchen war.

Wenn ihr abergläubisch seid und 13 für eine Unglückszahl haltet, kann ich gerne mit einem optimistischen Blick in die Zukunft dienen. Denn dann kann das 14. Jahr nur besser werden und wir schauen selbstbewusst in eine bessere Zukunft, in der wir weiter: Oben bleiben!


Auf https://www.bei-abriss-aufstand.de/: die Montagsdemo vom 25.9. mit den Reden von Daniel Kartmann und Dieter Reicherter als Text und Video.