(hier der Offene Brief als pdf-Datei)

Sehr geehrte Frau Geywitz,

der Stuttgarter Oberbürgermeister, Herr Dr. Frank Nopper hat Ihnen, dem Bundesverkehrsminister und den baden-württembergischen Bundestagabgeordneten am 30. August einen Brief geschrieben, um die Ende letzten Jahres in Kraft getretene Novellierung des § 23 Allgemeines Eisenbahngesetz wieder rückgängig zu machen bzw. eine Art Sondergesetz für Stuttgart 21 („Lex S21“) zu erwirken.

Dieses Schreiben strotz vor Irreführungen und Falschdarstellungen und sollte nicht als Grundlage Ihrer Entscheidungen bzw. der Entscheidung der Koalition in dieser Frage dienen.

Zunächst ist dem Eindruck entgegenzutreten, in dieser Auseinandersetzung gehe es um Stuttgart 21. Tatsächlich hat die jetzige Regelung nur Auswirkungen auf die Bebauung des jetzigen Gleisvorfelds mit einem neuen Stadtviertel. Dies ist zwar die eigentliche Motivation für den Bau des Tiefbahnhofs und der bisher 60 km Tunnelanlagen. Das Bahnprojekt S21 könnte jedoch auch ohne das Immobilienprojekt, genannt „Rosensteinquartier“, weiter gebaut und in Betrieb genommen werden. Es geht also um keinen eisenbahnbetrieblichen Dissens, sondern allein um ein Stuttgarter Immobilienprojekt.

Es geht auch nicht wirklich um Wohnungsbau, erst recht nicht um sozialen Wohnungsbau. Die Stadt Stuttgart verfügt über ausreichend ungenutzte Potentiale wie z.B. 10.000 leerstehende Wohnungen, um nicht erst in den 2040-er Jahren (wenn überhaupt) Wohnraum zu schaffen, sondern zeitnah. Schon längst hätten schon entwidmete Bahnflächen (die allerdings derzeit von der Bahn für Baustellenlogistik belegt werden), Bürogebäude und bestehende Brachen für Wohnungsbau im Rahmen der kommunalen Hoheit genutzt werden können. Berechnungen des Finanzbürgermeisters zum Wohnungsbau auf den durch das AEG nun ausgeschlossenen Flächen zeigen, dass die Herrichtung des Baufelds, die Schaffung von Infrastrukturen, die Bebauung auf hochpreisigen innerstädtischen Flächen und das Subventionieren auf ein (Miet-)preisniveau für Normalverdiener*innen den städtischen Haushalt völlig überfordern würden – oder es würde eben nur Wohnraum für Reiche geschaffen.

Das Stuttgarter Immobilienprojekt entstammt den frühen 90-er-Jahren und den damals noch vorherrschenden städtebaulichen Vorstellungen. Als Wohnungsbauministerin wissen Sie, dass heute Städtebau sensibler vorgeht und im Bestand entwickelt, statt am „Reißbrett“ entworfene Stadtteile hinzustellen. Die klimaschädigende Bodenversiegelung ist mit einem Netto-Zuwachs von einem Quadratkilometer seit 2018 in Stuttgart ungebrochen und würde mit dem Bau des geplanten neuen Stadtteils neue Rekordhöhen erreichen (s. Stuttgarter Zeitung von 2./310.2024, S. 17).

Auch die Behauptung des Stuttgarter OBs, hier werde ein „klimaangepasster“ Stadtteil entstehen, ist irreführend. Denn der Stadtteil selbst wird zwar sehr ökologisch geplant, aber auf einer stadtklimatisch hoch bedeutsamen Fläche:

Aufgrund seiner Kessellage erlebt die Stuttgarter Innenstadt schon heute jeden Sommer immer neue Höchsttemperaturen. Eine Frischluftschneise vom Stuttgarter Süden („S-Kaltental“) über das Gleisvorfeld zum Neckar bewirkt nachts eine Abkühlung. Genau auf diesen mikroklimatisch wichtigen Flächen soll der neue Stadtteil entstehen, der mit einer Bebauungshöhe von bis zu 27 m den Abfluss der Heißluft behindern würde. Angesichts der immer bedrohlicheren Klimaprognosen ist das unseres Erachtens unverantwortlich. Leider durfte die Abteilung Stadtklimatologie der Landeshauptstadt nur der Frage nachgehen, welche Art der Bebauung am klimaverträglichsten ist, nie aber der Frage, ob eine Bebauung an sich klimaverträglich ist.

Die Behauptung, eine Bebauung müsse ermöglicht werden, weil die Gleisflächen des Kopfbahnhofs bei Fertigstellung von S21 nicht mehr benötigt würden, geht auf den alten Streit um die Kapazität von Stuttgart 21 zurück. Diverse Bemühungen, mit milliardenteuren „Ergänzungsprojekten“ die Leistungsfähigkeit des 8-gleisigen Tiefbahnhofs zu erhöhen, belegen, dass es bei S21 ein manifestes Kapazitätsproblem gibt, spätestens dann, wenn bis 2030 die Zahl der Bahnreisenden verdoppelt werden soll, wie es die Planung der Verkehrswende vorsieht. Dies kann nur durch den (zusätzlichen) Erhalt von Kopfbahnhofgleisen ermöglicht werden. Eine Vorratshaltung von Schieneninfrastruktur ist daher nicht „entbehrlich“, wie behauptet, sondern dringend geboten. Eine Entwidmung dieser Anlagen ist „kein Stück aus dem Tollhaus“, wie OB Nopper es in den Stuttgarter Nachrichten vom 29.8. bezeichnete, sondern sinnvollerweise mit der Neuregelung von §23 AEG ausgeschlossen.

Eher kurios mutet das Schreckensbild in dem Schreiben an, auf dem innerstädtischen Areal entstünden „Bahnwüsten und verwilderte Flächen“, wenn die Stadt ihr Immobilienprojekt nicht realisieren könne. Das wäre höchstens in dem sehr konstruierten Fall die Folge, wenn die Flächen nicht für Bahnbetrieb genutzt würden. Stattdessen wird die Bahn aber froh sein, für die Zukunft auf diese für eine ausreichende Kapazität dringend benötigten Flächen zurückgreifen zu können.

Die Magistrale Zürich–Stuttgart („Gäubahn“) könnte dann weiter direkt in den bestehenden Kopfbahnhof geführt werden. Die langjährige Kappung der Gäubahn, gegen die die Anrainer-Kommunen, darunter viele CDU-geführte, heftig protestieren, wäre vom Tisch. Ebenso die sehr aussichtsreiche Klage der Deutschen Umwelthilfe gegen die Kappung. Und der Bundeshauhalt würde nicht durch weitere Mehrkosten in Milliardenhöhe für den sog. Pfaffensteigtunnel belastet, durch den in 10 bis 15 Jahren, wenn überhaupt, die Gäubahn-Züge in den Tiefbahnhof fahren können sollen. Auch weitere Milliarden teure „Ergänzungsprojekte“ wären nicht mehr erforderlich.

Auch würde der langjährigen, notorisch ignorierten Kritik des Bundesrechnungshofs an der völlig aus dem Ruder geratenen Kostenentwicklung von Stuttgart 21 Rechnung getragen – was Sie als ehemalige Prüfgebietsleiterin des Landesrechnungshof Brandenburg sicher zu schätzen wissen würden.

Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie können davon ausgehen, dass wir unsere sachlichen Argumente Punkt für Punkt belegen können, getreu der Sichtweise der WELT vom 24.9.2024, die unter der Überschrift „Späte Genugtuung für die „Wutbürger“ schrieb: „Dass die Bahn an dem Bauprojekt gegen alle Widerstände festgehalten hat, rächt sich heute und macht Stuttgart 21 zum mahnenden Beispiel dafür, wie riskant es ist, Einwänden zu wenig Gehör zu schenken.“

Derzeit mobilisieren die Stuttgarter S21-Förderer all ihre (partei-)politischen Kontakte für eine wie auch immer geartete Sonderregelung für Stuttgart 21, genauer eben für das in diesem Zusammenhang beabsichtigte Immobilienprojekt.

Wir bitten Sie um ein Gespräch in nächster Zeit, um Ihnen die hier vorgetragenen Argumente erläutern zu können.

Mit freundlichen Grüßen (gez.)

Martin Poguntke (Sprecher), Werner Sauerborn (Geschäftsführer)